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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band.

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auch der leiseste Schein einer Beeinflussung in der bezeichneten Richtung um
so mehr vermieden werden, als bei uns die Kompetenz der Schwurgerichte für
Preßdelikte aufrecht erhalten bleibt. All' diese Bedenken jedoch wurden nicht
als vollwichtig erkannt und die Regierungsvorlage augenommen.

Weiteren Anlaß zu Meinungsverschiedenheiten gab die Stellung des
Staatsanwalts und die Ernennung der Amtsanwälte. Hier wurde der Wider¬
streit der Ansichten durch einen Kompromiß beseitigt, wonach die Amtsanwälte
"thunlichst" aus der Zahl der Rechtskundigen zu entnehmen sind. Eine prin¬
zipiell nicht unwichtige Frage war auch die, ob gegen die von der Polizeibehörde
ausgesprochene Strafe auch das Mittel des Rekurses an die vorgesetzte Ver¬
waltungsbehörde zulässig sei oder lediglich die Berufung an das Gericht. Die
Majorität der Kammer entschied nach lebhafter Debatte im Sinne des Regie¬
rungsantrags für die erstere Alternative, so daß es also dem Bestraften frei
stehen soll, die Entscheidung der dem Polizeigericht vorgesetzten Dienstbehörde
oder die richterliche Entscheidung anzurufen. Der Borwurf, daß mit dieser
Gesetzesbestimmung ein fremdes Element in die Rechtsprechung hineingezogen
werde, möchte kaum zu entkräften sein.

Nun erhob sich die letzte, wichtigste Streitfrage. Sie betraf die Derogcitivu
der in Folge der Reichsjustizgesetzgebuug außer Geltung tretenden Bestimmungen
unseres badischen Landrechts (ooäs eivil). Die zweite Kammer hat, unter
schärfsten Widerspruch der Regierung, fast einstimmig beschlossen, "daß die mit
den Reichsjustizgesetzen nicht übereinstimmenden Vorschriften des Landrechts
und der dasselbe ergänzenden Gesetze durch Aufhebung oder Abänderung dieser
Vorschriften in dem zu erlassenden Einführungsgesetze auszuscheiden seien."
Die Regierung machte hiergegen geltend, daß, wie die Reichsjustizgesetze ohne
Zuthun der badischen Gesetzgebung in unserem Lande zur Geltung kommen/ so
auch die Landesgesetzgebung überhaupt nicht befugt erscheine, in rechtlich ver¬
bindender Weise festzustellen, was von dem bisherigen Rechte durch die Reichs¬
gesetzgebung beseitigt sei und was neben ihm bestehen könne. Das Reichsrecht
allein verfüge, was außer Kraft trete. Die Derogation sei der richterlichen
Praxis beziehentlich der Wissenschaft zu überlassen. Dagegen ist ebenso unbe¬
stritten, daß, "so oft das Reichsrecht eine wirkliche Lücke in das Recht des
Einzelstaates reißt, die Nothwendigkeit einer landesrechtlichen Ergänzung ein¬
tritt, weil ein Zustand unerträglich wird, in welchem eingerissene Rechtsnormen
nicht wieder aufgebaut werden. Diese Nothwendigkeit kann auch eintreten, wo
es sich nicht gerade um den Wiederaufbau, sondern um Wegräumung von
Ruinen handelt." Für diese von der Kammer empfohlene Methode haben sich
auch die Gerichtshöfe des Landes, mit Ausnahme von zweien, ausgesprochen.
Sicher ist und jedem Laien einleuchtend, daß, wie das Gutachten eines Gerichts-


auch der leiseste Schein einer Beeinflussung in der bezeichneten Richtung um
so mehr vermieden werden, als bei uns die Kompetenz der Schwurgerichte für
Preßdelikte aufrecht erhalten bleibt. All' diese Bedenken jedoch wurden nicht
als vollwichtig erkannt und die Regierungsvorlage augenommen.

Weiteren Anlaß zu Meinungsverschiedenheiten gab die Stellung des
Staatsanwalts und die Ernennung der Amtsanwälte. Hier wurde der Wider¬
streit der Ansichten durch einen Kompromiß beseitigt, wonach die Amtsanwälte
„thunlichst" aus der Zahl der Rechtskundigen zu entnehmen sind. Eine prin¬
zipiell nicht unwichtige Frage war auch die, ob gegen die von der Polizeibehörde
ausgesprochene Strafe auch das Mittel des Rekurses an die vorgesetzte Ver¬
waltungsbehörde zulässig sei oder lediglich die Berufung an das Gericht. Die
Majorität der Kammer entschied nach lebhafter Debatte im Sinne des Regie¬
rungsantrags für die erstere Alternative, so daß es also dem Bestraften frei
stehen soll, die Entscheidung der dem Polizeigericht vorgesetzten Dienstbehörde
oder die richterliche Entscheidung anzurufen. Der Borwurf, daß mit dieser
Gesetzesbestimmung ein fremdes Element in die Rechtsprechung hineingezogen
werde, möchte kaum zu entkräften sein.

Nun erhob sich die letzte, wichtigste Streitfrage. Sie betraf die Derogcitivu
der in Folge der Reichsjustizgesetzgebuug außer Geltung tretenden Bestimmungen
unseres badischen Landrechts (ooäs eivil). Die zweite Kammer hat, unter
schärfsten Widerspruch der Regierung, fast einstimmig beschlossen, „daß die mit
den Reichsjustizgesetzen nicht übereinstimmenden Vorschriften des Landrechts
und der dasselbe ergänzenden Gesetze durch Aufhebung oder Abänderung dieser
Vorschriften in dem zu erlassenden Einführungsgesetze auszuscheiden seien."
Die Regierung machte hiergegen geltend, daß, wie die Reichsjustizgesetze ohne
Zuthun der badischen Gesetzgebung in unserem Lande zur Geltung kommen/ so
auch die Landesgesetzgebung überhaupt nicht befugt erscheine, in rechtlich ver¬
bindender Weise festzustellen, was von dem bisherigen Rechte durch die Reichs¬
gesetzgebung beseitigt sei und was neben ihm bestehen könne. Das Reichsrecht
allein verfüge, was außer Kraft trete. Die Derogation sei der richterlichen
Praxis beziehentlich der Wissenschaft zu überlassen. Dagegen ist ebenso unbe¬
stritten, daß, „so oft das Reichsrecht eine wirkliche Lücke in das Recht des
Einzelstaates reißt, die Nothwendigkeit einer landesrechtlichen Ergänzung ein¬
tritt, weil ein Zustand unerträglich wird, in welchem eingerissene Rechtsnormen
nicht wieder aufgebaut werden. Diese Nothwendigkeit kann auch eintreten, wo
es sich nicht gerade um den Wiederaufbau, sondern um Wegräumung von
Ruinen handelt." Für diese von der Kammer empfohlene Methode haben sich
auch die Gerichtshöfe des Landes, mit Ausnahme von zweien, ausgesprochen.
Sicher ist und jedem Laien einleuchtend, daß, wie das Gutachten eines Gerichts-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670/513>, abgerufen am 05.02.2025.