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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band.

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harren, dieser das freudige Weiterstreben zuweist, so ist schwer zu verstehen,
wie eine so völlige Verkennung der thatsächlichen Verhältnisse bei einem so geist-
und kenntnißreichen Manne hat entstehen können. Bei gerechter Wägung aller
maßgebenden Momente wird man sagen dürfen, daß durch die liberalen Par¬
teien zwei sozialpolitische Strömungen gehen: die Einen legen das Hauptgewicht
auf die Konsolidation der modernen Wirthschaftsordnung, die, wie Scheel ja
selbst an dem Beispiele der konservativen Parteien zeigt, noch den thörichtsten
Anfechtungen ausgesetzt ist; die Andern halten sie für hinreichend fest und sicher
gegründet, um schon an ihren weiteren Ausbau gehen zu können. Mag man
nun diese oder jene Richtung, oder genauer eigentlich nur Taktik für augen¬
blicklich angezeigter halten, so ist es jedenfalls ganz unhaltbar und unverständ¬
lich, wenn man diese Strömungen sich scheiden läßt durch die politische Partei¬
grenze zwischen den Fortschrittlern und Nativnalliberalen. Sie gehen vielmehr
gleichmäßig durch beide Parteien; viel eher könnte man noch sagen, daß die
Fortschrittler sozialpolitisch konservativer seien, als die Nationalliberalen. Wenig¬
stens ihre maßgebenden Führer, wie Eugen Richter, sind Manchesterleute in
dem minder schmeichelhaften Sinne dieses Worts, während fast alle Katheder¬
sozialisten sich zur nationalliberalen Partei zählen. Der einzige Ruhm, auf
den die Fortschrittspartei besonders pochen könnte, wäre die abenteuerliche
Sozialpolitik von Max Hirsch, der freilich von den Führern der Partei in un-
verholenster Weise verleugnet zu werden pflegt. Seine Feldzüge sind in ihrem
tragikomischen Mißlingen -- tragisch, so weit es sich um das Schicksal be-
thörter Arbeiter, komisch, so weit es sich um Herrn Hirsch selbst handelt, --
allerdings zu wenig verlockend, als daß selbst die Fortschrittspartei sich be¬
sonders versucht fühlen könnte, ihre politischen Kosten zu tragen. Ueber diese
Verhältnisse urtheilt Herr von Scheel mit einer seltsamen Befangenheit, welche
die einschlägigen Abschnitte seines trefflichen Büchleins sehr gegen die durch¬
sichtige Klarheit- des übrigen Inhalts zurücktreten läßt. Betheiligt er sich doch
auch praktisch an dem neuesten Scherz von Max Hirsch, der Gründung einer
"Humboldt-Akademie" in Berlin, welche die Sozialdemokratie durch Ausrollen
der Halbbildung vernichten und behufs dieses löblichen Werks den Arbeitern
durch Vortragszyklen von je zehn bis zwölf Stunden über Geologie, Paläon¬
tologie, Philosophie, Psychologie, Erkenntnißtheorie, Aesthetik, Ethik, Rechts¬
wissenschaft, Kunstgeschichte in. eine "harmonische, wissenschaftliche Bildung" ein¬
flößen will. Ein hübsches Pröbchen sozialpolitischer Weisheit, aber durchaus
würdig seines Urhebers, der noch immer der mächtigste Förderer alles dessen ge¬
wesen ist, was er vernichten wollte!

In demselben Verlage erschienen wie "Unsere sozialpolitischen Parteien",
aber ein ganz anderes Werk eines ganz andern Mannes ist Viktor Böhmert's


harren, dieser das freudige Weiterstreben zuweist, so ist schwer zu verstehen,
wie eine so völlige Verkennung der thatsächlichen Verhältnisse bei einem so geist-
und kenntnißreichen Manne hat entstehen können. Bei gerechter Wägung aller
maßgebenden Momente wird man sagen dürfen, daß durch die liberalen Par¬
teien zwei sozialpolitische Strömungen gehen: die Einen legen das Hauptgewicht
auf die Konsolidation der modernen Wirthschaftsordnung, die, wie Scheel ja
selbst an dem Beispiele der konservativen Parteien zeigt, noch den thörichtsten
Anfechtungen ausgesetzt ist; die Andern halten sie für hinreichend fest und sicher
gegründet, um schon an ihren weiteren Ausbau gehen zu können. Mag man
nun diese oder jene Richtung, oder genauer eigentlich nur Taktik für augen¬
blicklich angezeigter halten, so ist es jedenfalls ganz unhaltbar und unverständ¬
lich, wenn man diese Strömungen sich scheiden läßt durch die politische Partei¬
grenze zwischen den Fortschrittlern und Nativnalliberalen. Sie gehen vielmehr
gleichmäßig durch beide Parteien; viel eher könnte man noch sagen, daß die
Fortschrittler sozialpolitisch konservativer seien, als die Nationalliberalen. Wenig¬
stens ihre maßgebenden Führer, wie Eugen Richter, sind Manchesterleute in
dem minder schmeichelhaften Sinne dieses Worts, während fast alle Katheder¬
sozialisten sich zur nationalliberalen Partei zählen. Der einzige Ruhm, auf
den die Fortschrittspartei besonders pochen könnte, wäre die abenteuerliche
Sozialpolitik von Max Hirsch, der freilich von den Führern der Partei in un-
verholenster Weise verleugnet zu werden pflegt. Seine Feldzüge sind in ihrem
tragikomischen Mißlingen — tragisch, so weit es sich um das Schicksal be-
thörter Arbeiter, komisch, so weit es sich um Herrn Hirsch selbst handelt, —
allerdings zu wenig verlockend, als daß selbst die Fortschrittspartei sich be¬
sonders versucht fühlen könnte, ihre politischen Kosten zu tragen. Ueber diese
Verhältnisse urtheilt Herr von Scheel mit einer seltsamen Befangenheit, welche
die einschlägigen Abschnitte seines trefflichen Büchleins sehr gegen die durch¬
sichtige Klarheit- des übrigen Inhalts zurücktreten läßt. Betheiligt er sich doch
auch praktisch an dem neuesten Scherz von Max Hirsch, der Gründung einer
„Humboldt-Akademie" in Berlin, welche die Sozialdemokratie durch Ausrollen
der Halbbildung vernichten und behufs dieses löblichen Werks den Arbeitern
durch Vortragszyklen von je zehn bis zwölf Stunden über Geologie, Paläon¬
tologie, Philosophie, Psychologie, Erkenntnißtheorie, Aesthetik, Ethik, Rechts¬
wissenschaft, Kunstgeschichte in. eine „harmonische, wissenschaftliche Bildung" ein¬
flößen will. Ein hübsches Pröbchen sozialpolitischer Weisheit, aber durchaus
würdig seines Urhebers, der noch immer der mächtigste Förderer alles dessen ge¬
wesen ist, was er vernichten wollte!

In demselben Verlage erschienen wie „Unsere sozialpolitischen Parteien",
aber ein ganz anderes Werk eines ganz andern Mannes ist Viktor Böhmert's


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670/504>, abgerufen am 05.02.2025.