Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band.Daneben wird aber auch der erfahrene Sozialpolitiker das Büchlein mit Im Ganzen und Großen, wie gesagt, mit anerkennenswerther Objektivität. Daneben wird aber auch der erfahrene Sozialpolitiker das Büchlein mit Im Ganzen und Großen, wie gesagt, mit anerkennenswerther Objektivität. <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0502" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/141381"/> <p xml:id="ID_1625"> Daneben wird aber auch der erfahrene Sozialpolitiker das Büchlein mit<lb/> aufrichtiger Freude begrüßen. Gerade auf diesem Gebiete üben ja die Phrase<lb/> und das Schlagwort eine fast unerträgliche Herrschaft aus; gleich den home¬<lb/> rischen Helden überschüttet man sich unausgesetzt mit wahren Felsblöcken don¬<lb/> nernder Scheltworte; dadurch schwebt man aber ebenso unaufhörlich in der<lb/> Gefahr, den schlimmsten Fehler zu begehen, der politisch überhaupt möglich ist,<lb/> den Fehler nämlich der Unterschätzung seiner Gegner. Man hält Spitznamen<lb/> für ebenso tödtlich, wie Spitzkugeln, und macht bei der Gelegenheit dann oft gar<lb/> böse, Erfahrungen. Deshalb ist es nicht nur eine geistige Erfrischung, sondern<lb/> auch eine strategisch sehr nützliche Maßregel, hin und wieder aus dem Brand-<lb/> und Schlachtlärm des Tages auf die lichte Höhe der historischen Betrachtung<lb/> zu steigen und auch einmal zu begreifen, statt nur zu bekämpfen. Ein ehrlicher<lb/> Parteimann wird dadurch an Eifer nichts verlieren, aber viel an Einsicht ge¬<lb/> winnen. Gerade auf sozialpolitischen Gebiete ist eine beständige Selbstkorrektur<lb/> nothwendig, wenn man sich schließlich nicht in ganz einseitige Schroffheiten ver¬<lb/> rennen will. Hier hat jede Parteirichtung, welche eine gewisse Lebenskraft ent¬<lb/> faltet, das günstige Vorurtheil für sich, wirklich im Volke zu wurzeln und relativ<lb/> berechtigt zu sein. Auf religiösem und reinpolitischem Gebiete mag die Doktrin,<lb/> der Glaube, die Theorie parteibildend sein, in Fragen des materiellen Interesses<lb/> sind sie es nicht, wie noch in den letzten Jahren die Geschicke des Katheder¬<lb/> und Stciatssvzialismus gezeigt haben. sozialpolitisch sind verkehrte Partei¬<lb/> programme immer nur der Widerschein verkehrter Zustände; nur indem man<lb/> diese aufhebt, widerlegt man jene mit unwiderstehlicher Beredtsamkeit. Diese<lb/> Momente lassen es auch für Sozialpolitiker von Fach sehr willkommen er¬<lb/> scheinen, daß Herr von Scheel einmal mit eindringender Geschichtskenntniß und<lb/> fein abwägenden Urtheil die Entstehung und Entwickelung unserer sozialpoliti¬<lb/> schen Parteien seit der großen, französischen Revolution bis auf diesen Tag<lb/> verfolgt hat.</p><lb/> <p xml:id="ID_1626" next="#ID_1627"> Im Ganzen und Großen, wie gesagt, mit anerkennenswerther Objektivität.<lb/> Sehr treffend wird beispielsweise nachgewiesen, daß der reaktionäre Sturmlauf<lb/> gegen die liberale Wirthschaftspolitik des letzten Jahrzehnts der reine Unsinn<lb/> und Widerspruch in sich selbst ist, daß im Ernste Niemand weniger daran<lb/> denkt und, ohne sich selbst aufzugeben, auch nur daran denken kann, die gege¬<lb/> benen Grundlagen zu verlassen, wie gerade die konservativen Parteien. Bei¬<lb/> spielsweise der Bauernstand, den man mit Recht ebenso für einen der gesun¬<lb/> desten, wie konservativsten Theile der heutigen Gesellschaft betrachtet, dankt erst<lb/> der französischen Revolution und ihren mächtigen Nachwirkungen sein Dajein.<lb/> Ueber die Sozialdemokratie urtheilt Scheel vielleicht zu schonend; in schärferer<lb/> und stärkerer Weise, als sich sachlich wohl rechtfertigen läßt, betont er ihr Ent-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0502]
Daneben wird aber auch der erfahrene Sozialpolitiker das Büchlein mit
aufrichtiger Freude begrüßen. Gerade auf diesem Gebiete üben ja die Phrase
und das Schlagwort eine fast unerträgliche Herrschaft aus; gleich den home¬
rischen Helden überschüttet man sich unausgesetzt mit wahren Felsblöcken don¬
nernder Scheltworte; dadurch schwebt man aber ebenso unaufhörlich in der
Gefahr, den schlimmsten Fehler zu begehen, der politisch überhaupt möglich ist,
den Fehler nämlich der Unterschätzung seiner Gegner. Man hält Spitznamen
für ebenso tödtlich, wie Spitzkugeln, und macht bei der Gelegenheit dann oft gar
böse, Erfahrungen. Deshalb ist es nicht nur eine geistige Erfrischung, sondern
auch eine strategisch sehr nützliche Maßregel, hin und wieder aus dem Brand-
und Schlachtlärm des Tages auf die lichte Höhe der historischen Betrachtung
zu steigen und auch einmal zu begreifen, statt nur zu bekämpfen. Ein ehrlicher
Parteimann wird dadurch an Eifer nichts verlieren, aber viel an Einsicht ge¬
winnen. Gerade auf sozialpolitischen Gebiete ist eine beständige Selbstkorrektur
nothwendig, wenn man sich schließlich nicht in ganz einseitige Schroffheiten ver¬
rennen will. Hier hat jede Parteirichtung, welche eine gewisse Lebenskraft ent¬
faltet, das günstige Vorurtheil für sich, wirklich im Volke zu wurzeln und relativ
berechtigt zu sein. Auf religiösem und reinpolitischem Gebiete mag die Doktrin,
der Glaube, die Theorie parteibildend sein, in Fragen des materiellen Interesses
sind sie es nicht, wie noch in den letzten Jahren die Geschicke des Katheder¬
und Stciatssvzialismus gezeigt haben. sozialpolitisch sind verkehrte Partei¬
programme immer nur der Widerschein verkehrter Zustände; nur indem man
diese aufhebt, widerlegt man jene mit unwiderstehlicher Beredtsamkeit. Diese
Momente lassen es auch für Sozialpolitiker von Fach sehr willkommen er¬
scheinen, daß Herr von Scheel einmal mit eindringender Geschichtskenntniß und
fein abwägenden Urtheil die Entstehung und Entwickelung unserer sozialpoliti¬
schen Parteien seit der großen, französischen Revolution bis auf diesen Tag
verfolgt hat.
Im Ganzen und Großen, wie gesagt, mit anerkennenswerther Objektivität.
Sehr treffend wird beispielsweise nachgewiesen, daß der reaktionäre Sturmlauf
gegen die liberale Wirthschaftspolitik des letzten Jahrzehnts der reine Unsinn
und Widerspruch in sich selbst ist, daß im Ernste Niemand weniger daran
denkt und, ohne sich selbst aufzugeben, auch nur daran denken kann, die gege¬
benen Grundlagen zu verlassen, wie gerade die konservativen Parteien. Bei¬
spielsweise der Bauernstand, den man mit Recht ebenso für einen der gesun¬
desten, wie konservativsten Theile der heutigen Gesellschaft betrachtet, dankt erst
der französischen Revolution und ihren mächtigen Nachwirkungen sein Dajein.
Ueber die Sozialdemokratie urtheilt Scheel vielleicht zu schonend; in schärferer
und stärkerer Weise, als sich sachlich wohl rechtfertigen läßt, betont er ihr Ent-
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