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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band.

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Also das Sinken des Selbständigkeitsgefühls i>- der Kirche war nicht das
Resultat der rechtlich geordneten Verbindung derselben mit dem Staate, sondern
eine Folge des Uebergangs des Staatslebens ans der ständischen in die absolut
monarchische Form, die ihrerseits wieder in dem Auflösungsprozeß des deut¬
schen Reiches begründet war. Ueber ein Jahrhundert aber hat der Zusammen¬
hang zwischen Staat und Kirche das Freiheitsbewußtsein der Geistlichen keines-
Wegs geschädigt und ihrer Theilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten keinen
Abbruch gethan; ein Beweis, wie die Staatskirche keineswegs unbedingt zu
der Korruption der Gesinnung führt, welche Baumgarten als ihre nothwen¬
dige Folge voraussetzt. Vielleicht hätte indessen das allgemeine Sinken des
Freiheitsbewußtseins in allen Ständen seit der zweiten Hälfte des siebzehnten
und im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts bei den Dienern der Kirche mehr
Widerstand gefunden, wenn dieselben von der eigenthümlichen Hoheit der ihnen
gestellten Aufgabe durchdrungen gewesen wären. Aber das Bewußtsein der¬
selben mußte ihnen in dem Maße abhanden kommen, als sie in Folge der
Herrschaft der Aufklärung sich nicht als Boten Gottes und Verkünder der
ewigen Heilswahrheit, sondern als Vermittler allgemeiner Bildung ansahen.

Wir kommen zur Gegenwart. Dieselbe zeigt uns die allerdings sehr be¬
trübende Thatsache, daß die Männer, in denen das neuerwachte christliche Leben
zum vollen Bewußtsein gelangt ist, zu einem sehr großen Theile der politischen
liberalen Bestrebungen feindlich gegenüber stehen. Wir sind weit davon ent¬
fernt, dies zu billigen, am wenigsten sind wir geneigt, eine Lanze für die
Kreuzzeitung zu brechen, die so viel dazu beigetragen hat, den Gegensatz zwischen
kirchlich gläubiger Gesinnung und politischem Freiheitssinn zu befestigen. Aber
es wäre ungerecht, die Schuld nur auf einer Seite zu suchen. Sie liegt ebenso
auf Seiten des Liberalismus. Derselbe hat in Deutschland lange Zeit den
kirchlichen Interessen Gleichgiltigkeit, wenn nicht Feindschaft bewiesen. Und
wenn er mit einer kirchlichen Partei Fühlung gesucht hat, so war es nicht die
positive, fest an den biblischen Heilsthatsachen haltende, sondern die negative,
welche diese verflüchtigte und in allgemeine religiöse und sittliche Ideen auf¬
löste. Es schien so, als ob politischer Liberalismus und kirchlicher Jndifferen-
tismus Hand in Hand gehen müßten.*) Was lag da der positiv christlichen



*) Wir machen hier auf ein ausgezeichnetes Werk aufmerksam, das ebenso echt liberale
wie echt konservative Gesinnung athmet, und das wie wenig andere geeignet ist, über den
Entwickelungsgang des deutschen Protestantismus zu orientiren. Es ist das anonym er-
schienene Werk Hundeshagen's: "der deutsche Protestantismus", seine Vergangenheit und seine
heutigen Lebensfragen im Zusammenhang der gesummten Nationalentwickelung, beleuchtet
von einem deutschen Theologen. Frankfurt a. M. 1847. In diesem Werk, dessen Studium
wir auf das Wärmste empfehlen, heißt es S. 143: "Es ist ganz eigentlich als eine große

Also das Sinken des Selbständigkeitsgefühls i>- der Kirche war nicht das
Resultat der rechtlich geordneten Verbindung derselben mit dem Staate, sondern
eine Folge des Uebergangs des Staatslebens ans der ständischen in die absolut
monarchische Form, die ihrerseits wieder in dem Auflösungsprozeß des deut¬
schen Reiches begründet war. Ueber ein Jahrhundert aber hat der Zusammen¬
hang zwischen Staat und Kirche das Freiheitsbewußtsein der Geistlichen keines-
Wegs geschädigt und ihrer Theilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten keinen
Abbruch gethan; ein Beweis, wie die Staatskirche keineswegs unbedingt zu
der Korruption der Gesinnung führt, welche Baumgarten als ihre nothwen¬
dige Folge voraussetzt. Vielleicht hätte indessen das allgemeine Sinken des
Freiheitsbewußtseins in allen Ständen seit der zweiten Hälfte des siebzehnten
und im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts bei den Dienern der Kirche mehr
Widerstand gefunden, wenn dieselben von der eigenthümlichen Hoheit der ihnen
gestellten Aufgabe durchdrungen gewesen wären. Aber das Bewußtsein der¬
selben mußte ihnen in dem Maße abhanden kommen, als sie in Folge der
Herrschaft der Aufklärung sich nicht als Boten Gottes und Verkünder der
ewigen Heilswahrheit, sondern als Vermittler allgemeiner Bildung ansahen.

Wir kommen zur Gegenwart. Dieselbe zeigt uns die allerdings sehr be¬
trübende Thatsache, daß die Männer, in denen das neuerwachte christliche Leben
zum vollen Bewußtsein gelangt ist, zu einem sehr großen Theile der politischen
liberalen Bestrebungen feindlich gegenüber stehen. Wir sind weit davon ent¬
fernt, dies zu billigen, am wenigsten sind wir geneigt, eine Lanze für die
Kreuzzeitung zu brechen, die so viel dazu beigetragen hat, den Gegensatz zwischen
kirchlich gläubiger Gesinnung und politischem Freiheitssinn zu befestigen. Aber
es wäre ungerecht, die Schuld nur auf einer Seite zu suchen. Sie liegt ebenso
auf Seiten des Liberalismus. Derselbe hat in Deutschland lange Zeit den
kirchlichen Interessen Gleichgiltigkeit, wenn nicht Feindschaft bewiesen. Und
wenn er mit einer kirchlichen Partei Fühlung gesucht hat, so war es nicht die
positive, fest an den biblischen Heilsthatsachen haltende, sondern die negative,
welche diese verflüchtigte und in allgemeine religiöse und sittliche Ideen auf¬
löste. Es schien so, als ob politischer Liberalismus und kirchlicher Jndifferen-
tismus Hand in Hand gehen müßten.*) Was lag da der positiv christlichen



*) Wir machen hier auf ein ausgezeichnetes Werk aufmerksam, das ebenso echt liberale
wie echt konservative Gesinnung athmet, und das wie wenig andere geeignet ist, über den
Entwickelungsgang des deutschen Protestantismus zu orientiren. Es ist das anonym er-
schienene Werk Hundeshagen's: „der deutsche Protestantismus", seine Vergangenheit und seine
heutigen Lebensfragen im Zusammenhang der gesummten Nationalentwickelung, beleuchtet
von einem deutschen Theologen. Frankfurt a. M. 1847. In diesem Werk, dessen Studium
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670/463>, abgerufen am 05.02.2025.