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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band.

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tirer. Fast noch unabhängiger geberdet sich das afghanische Turkestan, wozu
die wenig bekannten Landschaften Chulum, Mische, Kunduz, Kulab, Bates u. s. w.
gerechnet werden, die höchstens einen spärlichen Jahrestribut an schir Ali
leisteten.

Aus dieser durchaus nicht übertriebenen Schilderung der inneren politischen
Verhältnisse Afghanistan's ersieht man, daß dieses Land keineswegs eine starke
Neutralitütszoue zwischen den beiden Rivalen abzugeben vermochte, daß vielmehr
seine Verhältnisse nach jeder Richtung hin zum Eingreifen drängen und auf¬
fordern mußten. Es ist eben ein Nachbar wie ehemals Polen zwischen Preußen,
Rußland und Oesterreich. Die ungeheuren Subsidien, welche England an
Afghanistan zahlte, um schir Ali's Macht dort aufrecht zu erhalten -- jährlich
fast Millionen Mark! -- und die bedeutenden Waffensendungen, die schir
Ali seit 1869 erhielt und die nun gegen England nutzbar werdeu, sie ver¬
mochten nicht den schließlich jetzt doch erfolgten Zusammenstoß abzuwenden.
Die so schwierig zu Stande gebrachte Neutralität ist schmählich in die Brüche
gegangen, und jene russenfeindliche Partei in England triumphirt, welche bereits
1873 rieth, man möge schnell auf Cabul ziehen und Afghanistan als Gegen¬
pfand in Besitz nehmen, weil Rußland seine Eroberungen in Chiwa machte.
Jetzt sind die Briten auf dem Wege dahin, und ihr Sieg wird trotz des Winter¬
feldzuges, trotz der schlimmen Erfahrungen und Niederlagen vom Jahre 1840
nnr eine Frage der Zeit sein. Haben sie aber Cabul, Kandahar, Ghasni und
die übrigen hervorragenden Städte Afghanistan's besetzt, dann beginnen erst
recht die Schwierigkeiten für den Sieger. Wer zahlt die Kriegskosten? Afgha¬
nistan hat nichts, Indien selbst ist in Noth, also bleibt das Mutterland übrig,
wenn man nicht sich durch Annexion des eroberten Landes schadlos halten will.
Dann aber ist England in Asien, was man bisher zu vermeiden trachtete,
Grenznachbar Rußland's, und dieses wird ein Wort mitzureden haben. Die
Differenz kann dann in Afghanistan so wenig ausbleiben, wie sie jetzt in der
Türkei ausblieb. Ju Asien wird aber so leicht kein Berliner Kongreß mühsam
den Zusammenstoß aufhalten.

Unter diesen Umständen ist die Frage auszuwerfen, wie Rußland sich
schließlich zu dem Vorgehen der Engländer in Afghanistan stellen wird und ob
es nicht bei Zeiten zugreifen und das wichtige Herat, den Schlüssel Zentral-
asien's, besetzen wird, ehe die Briten, den Hindnkuh übersteigend, dort selbst
ihre Fahne entfalten. Wie Rußland in seiner orientalischen Politik weitsichtig
und von langer Hand her sein Ziel verfolgte, so war dies seit den Tagen des
Kaisers Nikolaus -- und uoch früher -- auch in Asien der Fall. Wir wollen
heute daran erinnern, daß bereits seit dem Jahre 1854, also zur Zeit des
Krimkrieges, die jetzt eingetretenen Eventualitäten in Rußland vorgesehen und


tirer. Fast noch unabhängiger geberdet sich das afghanische Turkestan, wozu
die wenig bekannten Landschaften Chulum, Mische, Kunduz, Kulab, Bates u. s. w.
gerechnet werden, die höchstens einen spärlichen Jahrestribut an schir Ali
leisteten.

Aus dieser durchaus nicht übertriebenen Schilderung der inneren politischen
Verhältnisse Afghanistan's ersieht man, daß dieses Land keineswegs eine starke
Neutralitütszoue zwischen den beiden Rivalen abzugeben vermochte, daß vielmehr
seine Verhältnisse nach jeder Richtung hin zum Eingreifen drängen und auf¬
fordern mußten. Es ist eben ein Nachbar wie ehemals Polen zwischen Preußen,
Rußland und Oesterreich. Die ungeheuren Subsidien, welche England an
Afghanistan zahlte, um schir Ali's Macht dort aufrecht zu erhalten — jährlich
fast Millionen Mark! — und die bedeutenden Waffensendungen, die schir
Ali seit 1869 erhielt und die nun gegen England nutzbar werdeu, sie ver¬
mochten nicht den schließlich jetzt doch erfolgten Zusammenstoß abzuwenden.
Die so schwierig zu Stande gebrachte Neutralität ist schmählich in die Brüche
gegangen, und jene russenfeindliche Partei in England triumphirt, welche bereits
1873 rieth, man möge schnell auf Cabul ziehen und Afghanistan als Gegen¬
pfand in Besitz nehmen, weil Rußland seine Eroberungen in Chiwa machte.
Jetzt sind die Briten auf dem Wege dahin, und ihr Sieg wird trotz des Winter¬
feldzuges, trotz der schlimmen Erfahrungen und Niederlagen vom Jahre 1840
nnr eine Frage der Zeit sein. Haben sie aber Cabul, Kandahar, Ghasni und
die übrigen hervorragenden Städte Afghanistan's besetzt, dann beginnen erst
recht die Schwierigkeiten für den Sieger. Wer zahlt die Kriegskosten? Afgha¬
nistan hat nichts, Indien selbst ist in Noth, also bleibt das Mutterland übrig,
wenn man nicht sich durch Annexion des eroberten Landes schadlos halten will.
Dann aber ist England in Asien, was man bisher zu vermeiden trachtete,
Grenznachbar Rußland's, und dieses wird ein Wort mitzureden haben. Die
Differenz kann dann in Afghanistan so wenig ausbleiben, wie sie jetzt in der
Türkei ausblieb. Ju Asien wird aber so leicht kein Berliner Kongreß mühsam
den Zusammenstoß aufhalten.

Unter diesen Umständen ist die Frage auszuwerfen, wie Rußland sich
schließlich zu dem Vorgehen der Engländer in Afghanistan stellen wird und ob
es nicht bei Zeiten zugreifen und das wichtige Herat, den Schlüssel Zentral-
asien's, besetzen wird, ehe die Briten, den Hindnkuh übersteigend, dort selbst
ihre Fahne entfalten. Wie Rußland in seiner orientalischen Politik weitsichtig
und von langer Hand her sein Ziel verfolgte, so war dies seit den Tagen des
Kaisers Nikolaus — und uoch früher — auch in Asien der Fall. Wir wollen
heute daran erinnern, daß bereits seit dem Jahre 1854, also zur Zeit des
Krimkrieges, die jetzt eingetretenen Eventualitäten in Rußland vorgesehen und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670/430>, abgerufen am 05.02.2025.