Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Vorläufig hat die Lehre von der vierfachen Ausdehnung des Raumes
noch große Chancen, Fortschritte zu machen. Ja man darf auf uoch Gro߬
artigeres gefaßt sein. Man darf erwarten, daß in nicht zu ferner Zeit ein
Grübler vom Raume auf die Zeit überspringt und sich Gewissensskrupel darüber
macht, daß die Zeit sich nur nach einer Richtung, nach vorwärts, ausdehnt und,
uni diesem Uebelstande abzuhelfen, ihr eine zweite miegt, eine Richtung nach
der Seite. Der Widersinn ist zum Lachen, aber auch ein fruchtbarer Boden
für neue Entdeckungen. Man bedenke doch, das Zählen vollzieht sich in der
Zeit; hat die Zeit nun eine neue Richtung erlangt, so wird es zweifelhaft, ob
2 mal 2 nicht auch etwas anderes als 4 sein kann. Der alte Adam Riese
ist antiquirt und das, was bisher als das Sicherste gegolten hat, steht mit
einem Male anf wankenden Füßen. Die Schiller'sche Rechtsfrage:


"Jahre lang schon bedien' ich mich meiner Nase zum Riechen,
Hab' ich denn wirklich an sie auch ein erweisliches Recht?"

ist eine wahre Kleinigkeit gegen solche erhabene Fragen der strengen Wis¬
senschaft.

Mit dem Mystizismus in der Mathematik aufzuräumen, eine so umfang¬
reiche Aufgabe hat sich allerdings das Buch^), das uns zu den vorstehenden
Bemerkungen veranlaßt, nicht gestellt; aber wir glaubten obige Skizze voraus¬
schicken zu müssen, Um den Leser mit dem Gegenstände des Buches im Großen
und Ganzen bekannt zu macheu, umsomehr, als darin die geschichtliche Ent¬
wickelung der Streitfrage keine Berücksichtigung gefunden hat.

Der Verfasser hat Kant und Helmholtz gleichsam als typische Vertreter für
die beiden entgegengesetzten Standpunkte gewählt. Wir billigen das in Betreff
von Helmholtz; da der Verfasser ans die Entstehung der Hypergeometrie nicht
eingeht, so thut er recht daran, gerade die Helmholtz'schen Theorien zu be¬
kämpfen, weil Helmholtz unter den lebenden Hypergeometern beim Publikum
der bekannteste ist und sich über die Entstehung der Raumanschannngen am
ausführlichsten ausgelassen hat. Daß er aber berechtigt wäre, Kant den Hyper¬
geometern durchweg entgegenzustellen, leuchtet nicht in derselben Weise ein. Das
Unding des unendlichen Raumes als eine an sich vorhandene Wirklichkeit ver¬
nichtet zu haben, ist allerdings das unsterbliche Verdienst der Keine'schen Raum-
und Zeitkritik; aber sie ist mit Zweideutigkeiten und Unentschiedensten derartig
durchwoben, daß es den heutigen Mystikern und Spiritisten möglich ist, ihre
Phantasmen in der Kant'schen Jdealitätstheorie ganz bequem unterzubringen.
Sie vergessen dann allerdings zu bemerken, daß es nicht der große Begriffs-



Kant und Helmholtz über den Ursprung und die Bedeutung der Rauman-
schauung und der geometrischen Axiome von Albrecht Krause. Lahr, Schauenburg, 1878.

Vorläufig hat die Lehre von der vierfachen Ausdehnung des Raumes
noch große Chancen, Fortschritte zu machen. Ja man darf auf uoch Gro߬
artigeres gefaßt sein. Man darf erwarten, daß in nicht zu ferner Zeit ein
Grübler vom Raume auf die Zeit überspringt und sich Gewissensskrupel darüber
macht, daß die Zeit sich nur nach einer Richtung, nach vorwärts, ausdehnt und,
uni diesem Uebelstande abzuhelfen, ihr eine zweite miegt, eine Richtung nach
der Seite. Der Widersinn ist zum Lachen, aber auch ein fruchtbarer Boden
für neue Entdeckungen. Man bedenke doch, das Zählen vollzieht sich in der
Zeit; hat die Zeit nun eine neue Richtung erlangt, so wird es zweifelhaft, ob
2 mal 2 nicht auch etwas anderes als 4 sein kann. Der alte Adam Riese
ist antiquirt und das, was bisher als das Sicherste gegolten hat, steht mit
einem Male anf wankenden Füßen. Die Schiller'sche Rechtsfrage:


„Jahre lang schon bedien' ich mich meiner Nase zum Riechen,
Hab' ich denn wirklich an sie auch ein erweisliches Recht?"

ist eine wahre Kleinigkeit gegen solche erhabene Fragen der strengen Wis¬
senschaft.

Mit dem Mystizismus in der Mathematik aufzuräumen, eine so umfang¬
reiche Aufgabe hat sich allerdings das Buch^), das uns zu den vorstehenden
Bemerkungen veranlaßt, nicht gestellt; aber wir glaubten obige Skizze voraus¬
schicken zu müssen, Um den Leser mit dem Gegenstände des Buches im Großen
und Ganzen bekannt zu macheu, umsomehr, als darin die geschichtliche Ent¬
wickelung der Streitfrage keine Berücksichtigung gefunden hat.

Der Verfasser hat Kant und Helmholtz gleichsam als typische Vertreter für
die beiden entgegengesetzten Standpunkte gewählt. Wir billigen das in Betreff
von Helmholtz; da der Verfasser ans die Entstehung der Hypergeometrie nicht
eingeht, so thut er recht daran, gerade die Helmholtz'schen Theorien zu be¬
kämpfen, weil Helmholtz unter den lebenden Hypergeometern beim Publikum
der bekannteste ist und sich über die Entstehung der Raumanschannngen am
ausführlichsten ausgelassen hat. Daß er aber berechtigt wäre, Kant den Hyper¬
geometern durchweg entgegenzustellen, leuchtet nicht in derselben Weise ein. Das
Unding des unendlichen Raumes als eine an sich vorhandene Wirklichkeit ver¬
nichtet zu haben, ist allerdings das unsterbliche Verdienst der Keine'schen Raum-
und Zeitkritik; aber sie ist mit Zweideutigkeiten und Unentschiedensten derartig
durchwoben, daß es den heutigen Mystikern und Spiritisten möglich ist, ihre
Phantasmen in der Kant'schen Jdealitätstheorie ganz bequem unterzubringen.
Sie vergessen dann allerdings zu bemerken, daß es nicht der große Begriffs-



Kant und Helmholtz über den Ursprung und die Bedeutung der Rauman-
schauung und der geometrischen Axiome von Albrecht Krause. Lahr, Schauenburg, 1878.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0312" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/141191"/>
          <p xml:id="ID_1065"> Vorläufig hat die Lehre von der vierfachen Ausdehnung des Raumes<lb/>
noch große Chancen, Fortschritte zu machen. Ja man darf auf uoch Gro߬<lb/>
artigeres gefaßt sein. Man darf erwarten, daß in nicht zu ferner Zeit ein<lb/>
Grübler vom Raume auf die Zeit überspringt und sich Gewissensskrupel darüber<lb/>
macht, daß die Zeit sich nur nach einer Richtung, nach vorwärts, ausdehnt und,<lb/>
uni diesem Uebelstande abzuhelfen, ihr eine zweite miegt, eine Richtung nach<lb/>
der Seite. Der Widersinn ist zum Lachen, aber auch ein fruchtbarer Boden<lb/>
für neue Entdeckungen. Man bedenke doch, das Zählen vollzieht sich in der<lb/>
Zeit; hat die Zeit nun eine neue Richtung erlangt, so wird es zweifelhaft, ob<lb/>
2 mal 2 nicht auch etwas anderes als 4 sein kann. Der alte Adam Riese<lb/>
ist antiquirt und das, was bisher als das Sicherste gegolten hat, steht mit<lb/>
einem Male anf wankenden Füßen. Die Schiller'sche Rechtsfrage:</p><lb/>
          <quote> &#x201E;Jahre lang schon bedien' ich mich meiner Nase zum Riechen,<lb/>
Hab' ich denn wirklich an sie auch ein erweisliches Recht?"</quote><lb/>
          <p xml:id="ID_1066"> ist eine wahre Kleinigkeit gegen solche erhabene Fragen der strengen Wis¬<lb/>
senschaft.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1067"> Mit dem Mystizismus in der Mathematik aufzuräumen, eine so umfang¬<lb/>
reiche Aufgabe hat sich allerdings das Buch^), das uns zu den vorstehenden<lb/>
Bemerkungen veranlaßt, nicht gestellt; aber wir glaubten obige Skizze voraus¬<lb/>
schicken zu müssen, Um den Leser mit dem Gegenstände des Buches im Großen<lb/>
und Ganzen bekannt zu macheu, umsomehr, als darin die geschichtliche Ent¬<lb/>
wickelung der Streitfrage keine Berücksichtigung gefunden hat.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1068" next="#ID_1069"> Der Verfasser hat Kant und Helmholtz gleichsam als typische Vertreter für<lb/>
die beiden entgegengesetzten Standpunkte gewählt. Wir billigen das in Betreff<lb/>
von Helmholtz; da der Verfasser ans die Entstehung der Hypergeometrie nicht<lb/>
eingeht, so thut er recht daran, gerade die Helmholtz'schen Theorien zu be¬<lb/>
kämpfen, weil Helmholtz unter den lebenden Hypergeometern beim Publikum<lb/>
der bekannteste ist und sich über die Entstehung der Raumanschannngen am<lb/>
ausführlichsten ausgelassen hat. Daß er aber berechtigt wäre, Kant den Hyper¬<lb/>
geometern durchweg entgegenzustellen, leuchtet nicht in derselben Weise ein. Das<lb/>
Unding des unendlichen Raumes als eine an sich vorhandene Wirklichkeit ver¬<lb/>
nichtet zu haben, ist allerdings das unsterbliche Verdienst der Keine'schen Raum-<lb/>
und Zeitkritik; aber sie ist mit Zweideutigkeiten und Unentschiedensten derartig<lb/>
durchwoben, daß es den heutigen Mystikern und Spiritisten möglich ist, ihre<lb/>
Phantasmen in der Kant'schen Jdealitätstheorie ganz bequem unterzubringen.<lb/>
Sie vergessen dann allerdings zu bemerken, daß es nicht der große Begriffs-</p><lb/>
          <note xml:id="FID_95" place="foot"> Kant und Helmholtz über den Ursprung und die Bedeutung der Rauman-<lb/>
schauung und der geometrischen Axiome von Albrecht Krause. Lahr, Schauenburg, 1878.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0312] Vorläufig hat die Lehre von der vierfachen Ausdehnung des Raumes noch große Chancen, Fortschritte zu machen. Ja man darf auf uoch Gro߬ artigeres gefaßt sein. Man darf erwarten, daß in nicht zu ferner Zeit ein Grübler vom Raume auf die Zeit überspringt und sich Gewissensskrupel darüber macht, daß die Zeit sich nur nach einer Richtung, nach vorwärts, ausdehnt und, uni diesem Uebelstande abzuhelfen, ihr eine zweite miegt, eine Richtung nach der Seite. Der Widersinn ist zum Lachen, aber auch ein fruchtbarer Boden für neue Entdeckungen. Man bedenke doch, das Zählen vollzieht sich in der Zeit; hat die Zeit nun eine neue Richtung erlangt, so wird es zweifelhaft, ob 2 mal 2 nicht auch etwas anderes als 4 sein kann. Der alte Adam Riese ist antiquirt und das, was bisher als das Sicherste gegolten hat, steht mit einem Male anf wankenden Füßen. Die Schiller'sche Rechtsfrage: „Jahre lang schon bedien' ich mich meiner Nase zum Riechen, Hab' ich denn wirklich an sie auch ein erweisliches Recht?" ist eine wahre Kleinigkeit gegen solche erhabene Fragen der strengen Wis¬ senschaft. Mit dem Mystizismus in der Mathematik aufzuräumen, eine so umfang¬ reiche Aufgabe hat sich allerdings das Buch^), das uns zu den vorstehenden Bemerkungen veranlaßt, nicht gestellt; aber wir glaubten obige Skizze voraus¬ schicken zu müssen, Um den Leser mit dem Gegenstände des Buches im Großen und Ganzen bekannt zu macheu, umsomehr, als darin die geschichtliche Ent¬ wickelung der Streitfrage keine Berücksichtigung gefunden hat. Der Verfasser hat Kant und Helmholtz gleichsam als typische Vertreter für die beiden entgegengesetzten Standpunkte gewählt. Wir billigen das in Betreff von Helmholtz; da der Verfasser ans die Entstehung der Hypergeometrie nicht eingeht, so thut er recht daran, gerade die Helmholtz'schen Theorien zu be¬ kämpfen, weil Helmholtz unter den lebenden Hypergeometern beim Publikum der bekannteste ist und sich über die Entstehung der Raumanschannngen am ausführlichsten ausgelassen hat. Daß er aber berechtigt wäre, Kant den Hyper¬ geometern durchweg entgegenzustellen, leuchtet nicht in derselben Weise ein. Das Unding des unendlichen Raumes als eine an sich vorhandene Wirklichkeit ver¬ nichtet zu haben, ist allerdings das unsterbliche Verdienst der Keine'schen Raum- und Zeitkritik; aber sie ist mit Zweideutigkeiten und Unentschiedensten derartig durchwoben, daß es den heutigen Mystikern und Spiritisten möglich ist, ihre Phantasmen in der Kant'schen Jdealitätstheorie ganz bequem unterzubringen. Sie vergessen dann allerdings zu bemerken, daß es nicht der große Begriffs- Kant und Helmholtz über den Ursprung und die Bedeutung der Rauman- schauung und der geometrischen Axiome von Albrecht Krause. Lahr, Schauenburg, 1878.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670/312
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670/312>, abgerufen am 05.02.2025.