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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band.

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Mathematiker offenbar in's Verfehlte und Widersinnige gerathen war. Gauß
behauptet, der bekannte Satz von der Winkelsunune des Dreiecks, den wir alle
noch aus unsrer Schulzeit kennen, sei nicht richtig, die Summe der drei Winkel
im geradlinigen Dreieck brauche nicht nothwendig zwei Rechte zu betragen; sie
könne vielmehr beliebig kleiner als zwei Rechte gemacht werden, wenn man
nur die Seiten des Dreiecks hinreichend groß nehme. Freilich würden bekannte
kosmische Entfernungen dazu nicht ausreichen, da alle bisherigen astronomischen
Dreiecksmessnngen zwei Rechte als Winkelsumme ergeben hätten. Eine solche
Behauptung war kein schlechter Spaß oder blos scheinbarer Widersinn, der
sich in eine nüchterne und alltägliche Wahrheit auflösen ließe, wenn man ihn
nur des Uneudlichkeitsjargous entkleidete und in eine verständliche Sprache
übertrüge. Sie war ernstlich gemeint, und da sie auch ernstlich genommen
wurde, so schössen aus ihr alle jene höheren geometrischen Verschrobenheiten
empor, welche es in ihren Konsequenzen gegenwärtig bis zu einer ganzen
Hypergeometrie gebracht haben, während Ganß gelegentlich noch mißmuthig klagen
mußte, daß wir es in Betreff der geometrischen Axiome und der Theorie der
Parallelen trotz vielfachen Bemühungen doch wenig weiter gebracht hätten, als
Euklid und die alten Geometer. In dieser neuen Art von Geometrie, die sich
arti-euklidische Geometrie nennt, hat der Raum, wenn nicht mehr, so doch
mindestens vier Dimensionen; parallele Linien schneiden sich im Unendlichen
wirklich, bilden dort einen Winkel und schließen ihrer drei ein Dreieck ein;
in dieser Geometrie hat die gerade Linie nicht mehr allein das ausschließliche
Privilegium, die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten zu sein, sie läuft
-- was entschieden das Prächtigste ist -- dnrch die Unendlichkeit hindurch in
sich selbst zurück. Wären diese Dinge richtig, so würde die Geometrie damit
zu einer Erfahrungswissenschaft umgewandelt und ihre Axiome zu bloßen
Hypothesen, deren Giltigkeit erst an der Erfahrung zu erproben wäre.

So lange diese metaphysischen und hypergeometrischen Gespinnste und
Spielereien die Privatdomäne Einzelner bleiben, sind sie ohne Bedeutung und
haben auf den Gang der Wissenschaft weiter keinen Einfluß; sobald sie aber
ansteckend wirken, ist Gefahr vorhanden, daß sie den regelmäßigen Fortschritt
im Wissensschaffen unterbrechen, Dieser Fall kann für Deutschland um so eher ein¬
treten, als im letzten Jahrzehnt zwei Physiker von Ruf der Hypergeometrie nicht nur
ihren Beifall gezollt, sondern anch an ihrem Ausbau positiv zu arbeiten gesucht
haben. Es siud dies Helmholtz und Zoellner. Jeder von beiden ist dabei auch
uoch in seiner eignen Weise epochemachend geworden; Helmholtz, indem er nicht
blos die hierher gehörigen Ideen in wissenschaftlicher und für das weitere
Publikum in populärer Form reprodnzirte, sondern ihnen auch noch eine ent¬
sprechende Theorie der Entstehung der Raumanschauung beigab; Zoellner, indem


Mathematiker offenbar in's Verfehlte und Widersinnige gerathen war. Gauß
behauptet, der bekannte Satz von der Winkelsunune des Dreiecks, den wir alle
noch aus unsrer Schulzeit kennen, sei nicht richtig, die Summe der drei Winkel
im geradlinigen Dreieck brauche nicht nothwendig zwei Rechte zu betragen; sie
könne vielmehr beliebig kleiner als zwei Rechte gemacht werden, wenn man
nur die Seiten des Dreiecks hinreichend groß nehme. Freilich würden bekannte
kosmische Entfernungen dazu nicht ausreichen, da alle bisherigen astronomischen
Dreiecksmessnngen zwei Rechte als Winkelsumme ergeben hätten. Eine solche
Behauptung war kein schlechter Spaß oder blos scheinbarer Widersinn, der
sich in eine nüchterne und alltägliche Wahrheit auflösen ließe, wenn man ihn
nur des Uneudlichkeitsjargous entkleidete und in eine verständliche Sprache
übertrüge. Sie war ernstlich gemeint, und da sie auch ernstlich genommen
wurde, so schössen aus ihr alle jene höheren geometrischen Verschrobenheiten
empor, welche es in ihren Konsequenzen gegenwärtig bis zu einer ganzen
Hypergeometrie gebracht haben, während Ganß gelegentlich noch mißmuthig klagen
mußte, daß wir es in Betreff der geometrischen Axiome und der Theorie der
Parallelen trotz vielfachen Bemühungen doch wenig weiter gebracht hätten, als
Euklid und die alten Geometer. In dieser neuen Art von Geometrie, die sich
arti-euklidische Geometrie nennt, hat der Raum, wenn nicht mehr, so doch
mindestens vier Dimensionen; parallele Linien schneiden sich im Unendlichen
wirklich, bilden dort einen Winkel und schließen ihrer drei ein Dreieck ein;
in dieser Geometrie hat die gerade Linie nicht mehr allein das ausschließliche
Privilegium, die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten zu sein, sie läuft
— was entschieden das Prächtigste ist — dnrch die Unendlichkeit hindurch in
sich selbst zurück. Wären diese Dinge richtig, so würde die Geometrie damit
zu einer Erfahrungswissenschaft umgewandelt und ihre Axiome zu bloßen
Hypothesen, deren Giltigkeit erst an der Erfahrung zu erproben wäre.

So lange diese metaphysischen und hypergeometrischen Gespinnste und
Spielereien die Privatdomäne Einzelner bleiben, sind sie ohne Bedeutung und
haben auf den Gang der Wissenschaft weiter keinen Einfluß; sobald sie aber
ansteckend wirken, ist Gefahr vorhanden, daß sie den regelmäßigen Fortschritt
im Wissensschaffen unterbrechen, Dieser Fall kann für Deutschland um so eher ein¬
treten, als im letzten Jahrzehnt zwei Physiker von Ruf der Hypergeometrie nicht nur
ihren Beifall gezollt, sondern anch an ihrem Ausbau positiv zu arbeiten gesucht
haben. Es siud dies Helmholtz und Zoellner. Jeder von beiden ist dabei auch
uoch in seiner eignen Weise epochemachend geworden; Helmholtz, indem er nicht
blos die hierher gehörigen Ideen in wissenschaftlicher und für das weitere
Publikum in populärer Form reprodnzirte, sondern ihnen auch noch eine ent¬
sprechende Theorie der Entstehung der Raumanschauung beigab; Zoellner, indem


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[0310] Mathematiker offenbar in's Verfehlte und Widersinnige gerathen war. Gauß behauptet, der bekannte Satz von der Winkelsunune des Dreiecks, den wir alle noch aus unsrer Schulzeit kennen, sei nicht richtig, die Summe der drei Winkel im geradlinigen Dreieck brauche nicht nothwendig zwei Rechte zu betragen; sie könne vielmehr beliebig kleiner als zwei Rechte gemacht werden, wenn man nur die Seiten des Dreiecks hinreichend groß nehme. Freilich würden bekannte kosmische Entfernungen dazu nicht ausreichen, da alle bisherigen astronomischen Dreiecksmessnngen zwei Rechte als Winkelsumme ergeben hätten. Eine solche Behauptung war kein schlechter Spaß oder blos scheinbarer Widersinn, der sich in eine nüchterne und alltägliche Wahrheit auflösen ließe, wenn man ihn nur des Uneudlichkeitsjargous entkleidete und in eine verständliche Sprache übertrüge. Sie war ernstlich gemeint, und da sie auch ernstlich genommen wurde, so schössen aus ihr alle jene höheren geometrischen Verschrobenheiten empor, welche es in ihren Konsequenzen gegenwärtig bis zu einer ganzen Hypergeometrie gebracht haben, während Ganß gelegentlich noch mißmuthig klagen mußte, daß wir es in Betreff der geometrischen Axiome und der Theorie der Parallelen trotz vielfachen Bemühungen doch wenig weiter gebracht hätten, als Euklid und die alten Geometer. In dieser neuen Art von Geometrie, die sich arti-euklidische Geometrie nennt, hat der Raum, wenn nicht mehr, so doch mindestens vier Dimensionen; parallele Linien schneiden sich im Unendlichen wirklich, bilden dort einen Winkel und schließen ihrer drei ein Dreieck ein; in dieser Geometrie hat die gerade Linie nicht mehr allein das ausschließliche Privilegium, die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten zu sein, sie läuft — was entschieden das Prächtigste ist — dnrch die Unendlichkeit hindurch in sich selbst zurück. Wären diese Dinge richtig, so würde die Geometrie damit zu einer Erfahrungswissenschaft umgewandelt und ihre Axiome zu bloßen Hypothesen, deren Giltigkeit erst an der Erfahrung zu erproben wäre. So lange diese metaphysischen und hypergeometrischen Gespinnste und Spielereien die Privatdomäne Einzelner bleiben, sind sie ohne Bedeutung und haben auf den Gang der Wissenschaft weiter keinen Einfluß; sobald sie aber ansteckend wirken, ist Gefahr vorhanden, daß sie den regelmäßigen Fortschritt im Wissensschaffen unterbrechen, Dieser Fall kann für Deutschland um so eher ein¬ treten, als im letzten Jahrzehnt zwei Physiker von Ruf der Hypergeometrie nicht nur ihren Beifall gezollt, sondern anch an ihrem Ausbau positiv zu arbeiten gesucht haben. Es siud dies Helmholtz und Zoellner. Jeder von beiden ist dabei auch uoch in seiner eignen Weise epochemachend geworden; Helmholtz, indem er nicht blos die hierher gehörigen Ideen in wissenschaftlicher und für das weitere Publikum in populärer Form reprodnzirte, sondern ihnen auch noch eine ent¬ sprechende Theorie der Entstehung der Raumanschauung beigab; Zoellner, indem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670/310>, abgerufen am 05.02.2025.