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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band.

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lautes niederzulegen, aber nicht Einem unter Tausenden fällt es ein, sich
ernsthaft und sachlich erst über die Zustände zu unterrichten, die er heilen will.
Seit langen Jahren erhitzen wir unsere Köpfe, ob einschneidende Aenderungen
in den herrschenden Besitz- und Eigenthumsverhültnissen und damit die revo¬
lutionärsten Umwälzungen nothwendig seien, aber die Thatsache, daß die Ansätze
eines modernen Arbeiterrechts, welche die Gewerbeordnung, das Haftpflicht-
und manches andere Gesetz immerhin enthielten, wesentlich nur auf dem Papier
standen, ließ uns völlig kalt. Hier hat erst die bescheidene und unbeachtete
Thätigkeit der Fabrikinspektoren einige Abhilfe geschaffen und gerade ihre Be¬
richte liefern theilweise unglaubliche Beispiele, wie weit jene beklagenswerthe
Unkenntnis; reicht. Arbeitgeber und Arbeitnehmer haben oft nicht die leiseste
Ahnung von den Bestimmungen der Gewerbegesetzgebnng, welche ihre unmittel¬
barsten Interessen berühren. Dem liegt gewöhnlich keinerlei böser Wille zu
Grunde; die weitaus meisten Unternehmer thun gern ihre Pflicht, so bald sie
nur wissen, was ihre Pflicht ist, und vollends den Arbeitern fehlt jeder er¬
sichtliche Grund, sich geflissentlich der Kenntnißnahme von Rechten zu entziehen,
welche ihnen verliehen sind. Es ist nur die holdeste, unbefangenste Unwissen¬
heit. Eine wesentliche Schuld hieran trägt offenbar ein Umstand, den die
gesetzgebenden Faktoren wohl einmal gebührend erwägen sollten, nämlich die
unzulängliche Veröffentlichung der Gesetze, die besonders bedauerliche Folgen
haben kann in Zeiten, in welchen die gesetzgeberische Maschine so eifrig arbeitet,
wie augenblicklich. Nach der Reichsverfassung gewinnt jedes Gesetz rechtsver¬
bindliche Kraft durch seine Veröffentlichung im "Reichsanzeiger", d. h. in
einem öffentlichen Organe, welches in das eigentliche Publikum gar uicht ge¬
laugt. Nun pflegen zwar die größeren Zeitungen wenigstens die wichtigeren
Gesetze im Wortlaute zu bringen, aber auch sie dringen nur in die oberen
Schichten der Bevölkerung, ganz abgesehen davon, daß diese Art der Publikation
allein von dem guten Willen der Redaktionen abhängt und selbst wenn dieser
gute Wille vorhanden ist, oft genug am Raummangel scheitert. Die kleine
Presse, welche so gut wie ausschließlich von der großen Masse gelesen wird,
thut nicht einmal so viel und kann auch nicht so viel thun. In dieser Be¬
ziehung könnten wir wirklich etwas von Frankreich lernen, wo alle Gesetze
durch öffentlichen Anschlag in den Gemeinden verkündet werden. Schwerlich
auf anderm Wege lassen sich die mangelhaften und schiefen Vorstellungen sern
halten, die gegenwärtig leider noch über den öffentlichen Rechtszustand nament¬
lich in wirthschaftlicher Beziehung herrschen.

Dock dies mehr nebenbei. Jedenfalls kann, wer einen schnellen und dabei
sichern und weiten Ueberblick über unsere sozialen Verhältnisse gewinnen will,
keinen bessern Wegweiser finden, wie die Jahresberichte der preußischen Fabrik-


lautes niederzulegen, aber nicht Einem unter Tausenden fällt es ein, sich
ernsthaft und sachlich erst über die Zustände zu unterrichten, die er heilen will.
Seit langen Jahren erhitzen wir unsere Köpfe, ob einschneidende Aenderungen
in den herrschenden Besitz- und Eigenthumsverhültnissen und damit die revo¬
lutionärsten Umwälzungen nothwendig seien, aber die Thatsache, daß die Ansätze
eines modernen Arbeiterrechts, welche die Gewerbeordnung, das Haftpflicht-
und manches andere Gesetz immerhin enthielten, wesentlich nur auf dem Papier
standen, ließ uns völlig kalt. Hier hat erst die bescheidene und unbeachtete
Thätigkeit der Fabrikinspektoren einige Abhilfe geschaffen und gerade ihre Be¬
richte liefern theilweise unglaubliche Beispiele, wie weit jene beklagenswerthe
Unkenntnis; reicht. Arbeitgeber und Arbeitnehmer haben oft nicht die leiseste
Ahnung von den Bestimmungen der Gewerbegesetzgebnng, welche ihre unmittel¬
barsten Interessen berühren. Dem liegt gewöhnlich keinerlei böser Wille zu
Grunde; die weitaus meisten Unternehmer thun gern ihre Pflicht, so bald sie
nur wissen, was ihre Pflicht ist, und vollends den Arbeitern fehlt jeder er¬
sichtliche Grund, sich geflissentlich der Kenntnißnahme von Rechten zu entziehen,
welche ihnen verliehen sind. Es ist nur die holdeste, unbefangenste Unwissen¬
heit. Eine wesentliche Schuld hieran trägt offenbar ein Umstand, den die
gesetzgebenden Faktoren wohl einmal gebührend erwägen sollten, nämlich die
unzulängliche Veröffentlichung der Gesetze, die besonders bedauerliche Folgen
haben kann in Zeiten, in welchen die gesetzgeberische Maschine so eifrig arbeitet,
wie augenblicklich. Nach der Reichsverfassung gewinnt jedes Gesetz rechtsver¬
bindliche Kraft durch seine Veröffentlichung im „Reichsanzeiger", d. h. in
einem öffentlichen Organe, welches in das eigentliche Publikum gar uicht ge¬
laugt. Nun pflegen zwar die größeren Zeitungen wenigstens die wichtigeren
Gesetze im Wortlaute zu bringen, aber auch sie dringen nur in die oberen
Schichten der Bevölkerung, ganz abgesehen davon, daß diese Art der Publikation
allein von dem guten Willen der Redaktionen abhängt und selbst wenn dieser
gute Wille vorhanden ist, oft genug am Raummangel scheitert. Die kleine
Presse, welche so gut wie ausschließlich von der großen Masse gelesen wird,
thut nicht einmal so viel und kann auch nicht so viel thun. In dieser Be¬
ziehung könnten wir wirklich etwas von Frankreich lernen, wo alle Gesetze
durch öffentlichen Anschlag in den Gemeinden verkündet werden. Schwerlich
auf anderm Wege lassen sich die mangelhaften und schiefen Vorstellungen sern
halten, die gegenwärtig leider noch über den öffentlichen Rechtszustand nament¬
lich in wirthschaftlicher Beziehung herrschen.

Dock dies mehr nebenbei. Jedenfalls kann, wer einen schnellen und dabei
sichern und weiten Ueberblick über unsere sozialen Verhältnisse gewinnen will,
keinen bessern Wegweiser finden, wie die Jahresberichte der preußischen Fabrik-


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[0295] lautes niederzulegen, aber nicht Einem unter Tausenden fällt es ein, sich ernsthaft und sachlich erst über die Zustände zu unterrichten, die er heilen will. Seit langen Jahren erhitzen wir unsere Köpfe, ob einschneidende Aenderungen in den herrschenden Besitz- und Eigenthumsverhültnissen und damit die revo¬ lutionärsten Umwälzungen nothwendig seien, aber die Thatsache, daß die Ansätze eines modernen Arbeiterrechts, welche die Gewerbeordnung, das Haftpflicht- und manches andere Gesetz immerhin enthielten, wesentlich nur auf dem Papier standen, ließ uns völlig kalt. Hier hat erst die bescheidene und unbeachtete Thätigkeit der Fabrikinspektoren einige Abhilfe geschaffen und gerade ihre Be¬ richte liefern theilweise unglaubliche Beispiele, wie weit jene beklagenswerthe Unkenntnis; reicht. Arbeitgeber und Arbeitnehmer haben oft nicht die leiseste Ahnung von den Bestimmungen der Gewerbegesetzgebnng, welche ihre unmittel¬ barsten Interessen berühren. Dem liegt gewöhnlich keinerlei böser Wille zu Grunde; die weitaus meisten Unternehmer thun gern ihre Pflicht, so bald sie nur wissen, was ihre Pflicht ist, und vollends den Arbeitern fehlt jeder er¬ sichtliche Grund, sich geflissentlich der Kenntnißnahme von Rechten zu entziehen, welche ihnen verliehen sind. Es ist nur die holdeste, unbefangenste Unwissen¬ heit. Eine wesentliche Schuld hieran trägt offenbar ein Umstand, den die gesetzgebenden Faktoren wohl einmal gebührend erwägen sollten, nämlich die unzulängliche Veröffentlichung der Gesetze, die besonders bedauerliche Folgen haben kann in Zeiten, in welchen die gesetzgeberische Maschine so eifrig arbeitet, wie augenblicklich. Nach der Reichsverfassung gewinnt jedes Gesetz rechtsver¬ bindliche Kraft durch seine Veröffentlichung im „Reichsanzeiger", d. h. in einem öffentlichen Organe, welches in das eigentliche Publikum gar uicht ge¬ laugt. Nun pflegen zwar die größeren Zeitungen wenigstens die wichtigeren Gesetze im Wortlaute zu bringen, aber auch sie dringen nur in die oberen Schichten der Bevölkerung, ganz abgesehen davon, daß diese Art der Publikation allein von dem guten Willen der Redaktionen abhängt und selbst wenn dieser gute Wille vorhanden ist, oft genug am Raummangel scheitert. Die kleine Presse, welche so gut wie ausschließlich von der großen Masse gelesen wird, thut nicht einmal so viel und kann auch nicht so viel thun. In dieser Be¬ ziehung könnten wir wirklich etwas von Frankreich lernen, wo alle Gesetze durch öffentlichen Anschlag in den Gemeinden verkündet werden. Schwerlich auf anderm Wege lassen sich die mangelhaften und schiefen Vorstellungen sern halten, die gegenwärtig leider noch über den öffentlichen Rechtszustand nament¬ lich in wirthschaftlicher Beziehung herrschen. Dock dies mehr nebenbei. Jedenfalls kann, wer einen schnellen und dabei sichern und weiten Ueberblick über unsere sozialen Verhältnisse gewinnen will, keinen bessern Wegweiser finden, wie die Jahresberichte der preußischen Fabrik-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670/295>, abgerufen am 05.02.2025.