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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band.

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es ist nicht recht klar, zu welchem Zwecke, aber sie hat sich auch gelegentlich
gegen die Behörden als ohnmächtig erwiesen.

Wenn so die ganze Masse nicht vorwärts zu bringen ist, meint die Ver¬
treterin des Nihilismus es mit Einzelnen versuchen zu müssen. Sie hat die
Bekanntschaft eines Bauern Namens Iwan Tsch, gemacht, eines verständigen,
"verhältnißmäßig" aufgeweckten, nüchternen Menschen und guten Familienvaters.
"Er klagte," schreibt sie, "besonders über die armselige Lage der Fabrikbauern,
begriff klar alle Ungerechtigkeiten von Seiten der Behörden und der Regierung,
die ganze Macht der Ausbeutung, von der die Arbeiter unterjocht worden sind.
Iwan war nicht nur traurig, sondern stellte sich selbst anch die Frage, wodurch
denn so schreiende Ungerechtigkeit entstanden sei und inwieweit der Mensch sie
ruhig ertragen müsse. Lange sprach ich mit ihm darüber, daß und wie die
Unterdrückten handeln müßten, daß sie sich von ihren Feinden befreien müßten,
und er hörte mit größter Aufmerksamkeit zu, fast ohne etwas einzuwerfen.
Bald uach diesem Gespräche ging ich zu ihm mit einer Druckschrift, welche
das, was ich gesagt hatte, vollkommen bestätigte. Man mußte sehen, mit
welcher Anstrengung, mit welcher freudigen Aufmerksamkeit Iwan ans das
hörte, was ich las. Es war spät Abends, es war für ihn nach vierzehnstüu-
diger Arbeit in der Fabrik Zeit zu schlafen, aber er hörte zu und hätte wie
es scheint die ganze Nacht zugehört. Als die Lektüre zu Ende war, strahlte
Iwan's Gesicht und er sagte triumphirend: ""Sieh, mein Täubchen, als Du
das letztemal von mir weggingst, dachte ich: sie ist gut, sie spricht gilt, aber
es ist eben uicht möglich, daß dies geschieht, daß wir selbst mit all dem
Schlimmen fertig werden und den Zaren entbehren könnten; jetzt aber sehe ich,
daß Deine Worte die reine Wahrheit sind und daß es so sein muß, wie Du
gesagt hast."" -- Ich triumphirte. Ohne Zeit zu verlieren, erscheine ich am
nächsten Tage wieder bei Iwein, komme auf die Frage zurück und sage ihm
offen, daß ich meine Sympathie für die Volkssache nicht aus Worte und nutz¬
lose Trauer zu beschränken gedächte, sondern bereit sei die Sache selbst anzu¬
greifen und ähnliche Leute suche, welche bereit wären im Falle der Noth mit
ihrer Person für die Interessen des Volkes einzustehen. Iwan sah fast mit
Ehrfurcht auf mich. ""Hört,"" sagte ich zu ihm, ""Ihr lebt hier schon viele Jahre,
Ihr kennt alle Fabrikbauern genau; zeigt mir die, auf die ich mich verlassen
konnte und mit denen ich über Alles sprechen könnte, ohne fürchten zu müssen,
daß sie ans Furcht oder Dummheit der Sache schaden."" Iwan schlug die
Angen nieder, war augenscheinlich verwirrt und antwortete mit schwacher, un¬
sichrer Stimme: ""Da kenne ich keine, ich kenne keine solchen Leute, und das
ist eine schwierige, eine gefährliche Sache."" Damit zog er eilig seine Stiefeln


es ist nicht recht klar, zu welchem Zwecke, aber sie hat sich auch gelegentlich
gegen die Behörden als ohnmächtig erwiesen.

Wenn so die ganze Masse nicht vorwärts zu bringen ist, meint die Ver¬
treterin des Nihilismus es mit Einzelnen versuchen zu müssen. Sie hat die
Bekanntschaft eines Bauern Namens Iwan Tsch, gemacht, eines verständigen,
„verhältnißmäßig" aufgeweckten, nüchternen Menschen und guten Familienvaters.
„Er klagte," schreibt sie, „besonders über die armselige Lage der Fabrikbauern,
begriff klar alle Ungerechtigkeiten von Seiten der Behörden und der Regierung,
die ganze Macht der Ausbeutung, von der die Arbeiter unterjocht worden sind.
Iwan war nicht nur traurig, sondern stellte sich selbst anch die Frage, wodurch
denn so schreiende Ungerechtigkeit entstanden sei und inwieweit der Mensch sie
ruhig ertragen müsse. Lange sprach ich mit ihm darüber, daß und wie die
Unterdrückten handeln müßten, daß sie sich von ihren Feinden befreien müßten,
und er hörte mit größter Aufmerksamkeit zu, fast ohne etwas einzuwerfen.
Bald uach diesem Gespräche ging ich zu ihm mit einer Druckschrift, welche
das, was ich gesagt hatte, vollkommen bestätigte. Man mußte sehen, mit
welcher Anstrengung, mit welcher freudigen Aufmerksamkeit Iwan ans das
hörte, was ich las. Es war spät Abends, es war für ihn nach vierzehnstüu-
diger Arbeit in der Fabrik Zeit zu schlafen, aber er hörte zu und hätte wie
es scheint die ganze Nacht zugehört. Als die Lektüre zu Ende war, strahlte
Iwan's Gesicht und er sagte triumphirend: „„Sieh, mein Täubchen, als Du
das letztemal von mir weggingst, dachte ich: sie ist gut, sie spricht gilt, aber
es ist eben uicht möglich, daß dies geschieht, daß wir selbst mit all dem
Schlimmen fertig werden und den Zaren entbehren könnten; jetzt aber sehe ich,
daß Deine Worte die reine Wahrheit sind und daß es so sein muß, wie Du
gesagt hast."" — Ich triumphirte. Ohne Zeit zu verlieren, erscheine ich am
nächsten Tage wieder bei Iwein, komme auf die Frage zurück und sage ihm
offen, daß ich meine Sympathie für die Volkssache nicht aus Worte und nutz¬
lose Trauer zu beschränken gedächte, sondern bereit sei die Sache selbst anzu¬
greifen und ähnliche Leute suche, welche bereit wären im Falle der Noth mit
ihrer Person für die Interessen des Volkes einzustehen. Iwan sah fast mit
Ehrfurcht auf mich. „„Hört,"" sagte ich zu ihm, „„Ihr lebt hier schon viele Jahre,
Ihr kennt alle Fabrikbauern genau; zeigt mir die, auf die ich mich verlassen
konnte und mit denen ich über Alles sprechen könnte, ohne fürchten zu müssen,
daß sie ans Furcht oder Dummheit der Sache schaden."" Iwan schlug die
Angen nieder, war augenscheinlich verwirrt und antwortete mit schwacher, un¬
sichrer Stimme: „„Da kenne ich keine, ich kenne keine solchen Leute, und das
ist eine schwierige, eine gefährliche Sache."" Damit zog er eilig seine Stiefeln


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670/289>, abgerufen am 05.02.2025.