Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band.zweifelten Schritten treiben können, so führen sie auf der andern zum Stumpf¬ Doch kommt sie zu keinem Ziele unter diesen Leuten, die eine Erlösung Zum nächsten Versuchsselde erwählt sie sich einen großen Flecken mit Und doch fehlt es diesen Arbeitern nicht an jedem Gemeinsinn, sie gelten zweifelten Schritten treiben können, so führen sie auf der andern zum Stumpf¬ Doch kommt sie zu keinem Ziele unter diesen Leuten, die eine Erlösung Zum nächsten Versuchsselde erwählt sie sich einen großen Flecken mit Und doch fehlt es diesen Arbeitern nicht an jedem Gemeinsinn, sie gelten <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0288" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/141167"/> <p xml:id="ID_1007" prev="#ID_1006"> zweifelten Schritten treiben können, so führen sie auf der andern zum Stumpf¬<lb/> sinn." Sie mag Recht haben, aber hat sie sich selbst niemals im Ernste die<lb/> Frage vorgelegt, ob denn nun ihre Schützlinge, die sie zur Erhebung gegen<lb/> harten Druck zu Hetzen strebt, dadurch, daß sie ihr folgten, ihre ohnehin schlimme<lb/> Lage nicht noch schlimmer machen würden, ob nicht in der Abweisung ihrer<lb/> „ehrlich gemeinten" Rathschläge mehr Verstand gelegen hat, als in eben diesen<lb/> Rathschlägen?</p><lb/> <p xml:id="ID_1008"> Doch kommt sie zu keinem Ziele unter diesen Leuten, die eine Erlösung<lb/> aus ihrem Elende gar nicht mehr für möglich halten, so ist der Erfolg ihrer<lb/> Mission unter anderen, die sich ein größeres Maß von Willenskraft bewahrt<lb/> haben, kein anderer.</p><lb/> <p xml:id="ID_1009"> Zum nächsten Versuchsselde erwählt sie sich einen großen Flecken mit<lb/> einer zahlreichen Fabrikbevölkerung. Diese besteht zum großen Theil aus<lb/> Bauern des Gouvernements Ssamara, welche noch zur Zeit der Leibeigenschaft<lb/> hierher verpflanzt worden sind, einige Arschinen (zu 0,71 Meter) Land erhalten<lb/> haben und fast ihre ganze Zeit in den Fabriken arbeiten müssen. Sie sind in<lb/> der That höchst unzufrieden mit ihrer Lage und klagen, zu ewiger Sklaverei<lb/> in den Fabriken verdammt zu sein. Hier um sucht unsere Nihilistin, die als<lb/> Stickerin auftritt, Bekanntschaften anzuknüpfen; sie besucht die Leute in ihren<lb/> Hütten, mischt sich unter sie, wenn sie Abends auf der Straße sich unterhalten,<lb/> stellt ihnen das Unleidliche ihrer Lage vor. Zunächst empfinden es die Leute<lb/> wohlthuend, daß überhaupt Jemand sich um sie kümmert. Ja sie gerathen<lb/> selbst auf den Gedanken einer allgemeinen Arbeitseinstellung, um eine Lohner¬<lb/> höhung durchzusetzen, kommen aber eben so schnell wieder davon zurück, da sie<lb/> sich überlegen, daß sie die Fabrikherren dadurch schwerlich in Verlegenheit<lb/> bringen würden, da Ueberfluß an Arbeitskräfte« vorhanden sei, ein Streik also<lb/> seinen Zweck verfehle, und die wahrscheinliche Entlassung der Streitenden sie<lb/> dem Hungertode preisgeben werde. Doch mit solchen Mitteln will ja auch<lb/> ihre neue Freundin gar nicht operiren. „Ich suchte selbstverständlich," sagt sie,<lb/> „nach den tieferen Ursachen, wies auf radikalere Mittel hin. Da traten be¬<lb/> sonders scharf jene Charakterzüge hervor, welche die Leute abhalten, für die<lb/> allgemeine Sache einzustehen: die Scheu, selbst etwas für ein Glück zu wagen,<lb/> das erst die Kinder oder gar die Enkel genießen könnten, die Furcht, die be¬<lb/> kannte Gegenwart für eine unbekannte Zukunft hinzugeben, und hauptsächlich<lb/> das Mißtrauen in die eigene Kraft und die Einmüthigkeit des Volkes."</p><lb/> <p xml:id="ID_1010" next="#ID_1011"> Und doch fehlt es diesen Arbeitern nicht an jedem Gemeinsinn, sie gelten<lb/> in weitem Umkreise sogar für besonders energisch, für Leute, die ihre Interessen<lb/> zu vertreten wissen. Ja sie haben eine Genossenschaft, ein „Obschtscheßtwo",</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0288]
zweifelten Schritten treiben können, so führen sie auf der andern zum Stumpf¬
sinn." Sie mag Recht haben, aber hat sie sich selbst niemals im Ernste die
Frage vorgelegt, ob denn nun ihre Schützlinge, die sie zur Erhebung gegen
harten Druck zu Hetzen strebt, dadurch, daß sie ihr folgten, ihre ohnehin schlimme
Lage nicht noch schlimmer machen würden, ob nicht in der Abweisung ihrer
„ehrlich gemeinten" Rathschläge mehr Verstand gelegen hat, als in eben diesen
Rathschlägen?
Doch kommt sie zu keinem Ziele unter diesen Leuten, die eine Erlösung
aus ihrem Elende gar nicht mehr für möglich halten, so ist der Erfolg ihrer
Mission unter anderen, die sich ein größeres Maß von Willenskraft bewahrt
haben, kein anderer.
Zum nächsten Versuchsselde erwählt sie sich einen großen Flecken mit
einer zahlreichen Fabrikbevölkerung. Diese besteht zum großen Theil aus
Bauern des Gouvernements Ssamara, welche noch zur Zeit der Leibeigenschaft
hierher verpflanzt worden sind, einige Arschinen (zu 0,71 Meter) Land erhalten
haben und fast ihre ganze Zeit in den Fabriken arbeiten müssen. Sie sind in
der That höchst unzufrieden mit ihrer Lage und klagen, zu ewiger Sklaverei
in den Fabriken verdammt zu sein. Hier um sucht unsere Nihilistin, die als
Stickerin auftritt, Bekanntschaften anzuknüpfen; sie besucht die Leute in ihren
Hütten, mischt sich unter sie, wenn sie Abends auf der Straße sich unterhalten,
stellt ihnen das Unleidliche ihrer Lage vor. Zunächst empfinden es die Leute
wohlthuend, daß überhaupt Jemand sich um sie kümmert. Ja sie gerathen
selbst auf den Gedanken einer allgemeinen Arbeitseinstellung, um eine Lohner¬
höhung durchzusetzen, kommen aber eben so schnell wieder davon zurück, da sie
sich überlegen, daß sie die Fabrikherren dadurch schwerlich in Verlegenheit
bringen würden, da Ueberfluß an Arbeitskräfte« vorhanden sei, ein Streik also
seinen Zweck verfehle, und die wahrscheinliche Entlassung der Streitenden sie
dem Hungertode preisgeben werde. Doch mit solchen Mitteln will ja auch
ihre neue Freundin gar nicht operiren. „Ich suchte selbstverständlich," sagt sie,
„nach den tieferen Ursachen, wies auf radikalere Mittel hin. Da traten be¬
sonders scharf jene Charakterzüge hervor, welche die Leute abhalten, für die
allgemeine Sache einzustehen: die Scheu, selbst etwas für ein Glück zu wagen,
das erst die Kinder oder gar die Enkel genießen könnten, die Furcht, die be¬
kannte Gegenwart für eine unbekannte Zukunft hinzugeben, und hauptsächlich
das Mißtrauen in die eigene Kraft und die Einmüthigkeit des Volkes."
Und doch fehlt es diesen Arbeitern nicht an jedem Gemeinsinn, sie gelten
in weitem Umkreise sogar für besonders energisch, für Leute, die ihre Interessen
zu vertreten wissen. Ja sie haben eine Genossenschaft, ein „Obschtscheßtwo",
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