Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band.Sie kommt zuerst in ein großes Dorf von etwa 1000 Einwohnern. Im Sie schildert nun drastisch, wie der Gewaltige in Begleitung etwa des Hier ist doch, wenn irgend wo, gewiß ein Boden für die radikalste Propa¬ Sie kommt zuerst in ein großes Dorf von etwa 1000 Einwohnern. Im Sie schildert nun drastisch, wie der Gewaltige in Begleitung etwa des Hier ist doch, wenn irgend wo, gewiß ein Boden für die radikalste Propa¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0287" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/141166"/> <p xml:id="ID_1004"> Sie kommt zuerst in ein großes Dorf von etwa 1000 Einwohnern. Im<lb/> entferntesten Winkel desselben lebt in elenden Lehmhütten eine bunt gemischte<lb/> Gesellschaft: entlassene Soldaten und herrschaftliche Bediente, arme Stadtbürger<lb/> und lautlos gewordene Bauern. „Aber nicht nur ärmlich, fährt sie fort, son¬<lb/> dern auch in beständiger Furcht lebte dieser Haufe von Elenden, über ihnen<lb/> hing fortwährend die Wetterwolke, welche bei der ersten kühnen Bewegung von<lb/> Seiten dieses halbverhungerter Ameisenhaufens sich entladen konnte. Und es<lb/> war schwer, Muth zu haben unter den Bedingungen, welche ihn umgaben.<lb/> Jedes Mitglied des Ameisenhaufens fürchtete jeden Tag für seine Existenz und<lb/> die Existenz seiner Habe. Die Alten und Kinder zitterten stets davor, daß der<lb/> Pvlizeikvsak sie im Staatsforste ertappe, aus dem sie auf ihren Schultern das<lb/> gefallene Holz holten, ohne welches sie buchstäblich ihre Hütten nicht heizen<lb/> konnten, weil sie weder Stroh noch Dünger besaßen. Die Weiber und Kinder<lb/> sannen nur darauf, früher aufzustehen als andere, um zuerst die seit der<lb/> Nacht zum Vorschein gekommenen Pilze und Beeren zu sammeln, denn glückt<lb/> das nicht, dann können sie nicht auf dem Markte erscheinen und folglich nicht<lb/> Grütze und Schmer einkaufen. Bauer und Bäuerin sehen betrübt zu, wie der<lb/> Wind ihre Gartenbeete mit Sand überschüttet, wie der hungrige, von der un¬<lb/> aufhörlichen Arbeit abgemagerte Ochse sich langsam nach Hause schleppt. Aber<lb/> etwas fürchteten die Bewohner der „Sandgrube" — fo hieß dieser Winkel<lb/> des Dorfes — mehr als Alles: das war der „Einbruch des Steuereinnehmers."</p><lb/> <p xml:id="ID_1005"> Sie schildert nun drastisch, wie der Gewaltige in Begleitung etwa des<lb/> Dorfschulzen und eines verabschiedeten Soldaten den nahenden Steuertermin<lb/> ankündigt, wie er dann, salls die Pflichtigen nicht rechtzeitig bezahlen, in ihren<lb/> Hütten eine heillose Verwüstung anrichtet, wie er die weißgetünchten Wände<lb/> und den Lehmofen mit Ruß beschmiert und Löcher in den letzteren schlägt, wie<lb/> er alle etwa vorhandenen Flüssigkeiten ausschüttet und das Thongeschirr zer¬<lb/> trümmert, während die Kinder sich verkriechen, die Weiber alles Geschirr und<lb/> alles Flüssige wegschaffen, um ihre Hütte, deren Reinlichkeit ihr ganzer Stolz<lb/> und ein Hauptgegenstand ihrer Arbeit ist, wenigstens vor dem Aergsten zu be¬<lb/> wahren, die Männer endlich ihren letzten Rock in der Schenke versetzen, um<lb/> eine Flasche Branntwein zur Besänftigung ihrer Peiniger zu kaufen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1006" next="#ID_1007"> Hier ist doch, wenn irgend wo, gewiß ein Boden für die radikalste Propa¬<lb/> ganda. Unsere Nihilistin macht die gegentheilige Erfahrung. „Die Leute<lb/> murren," schreibt sie, „verwünschen ihr Schicksal und ihre mächtigen Feinde, die<lb/> Behörden, aber die Stimme des Protestes erhebt sich nicht unter ihnen. „»Du<lb/> wirst nichts ausrichten, es ist klar, das ist uns so bestimmt,"" wandten mir<lb/> die Unglücklichen auf meine ehrlich gemeinten Reden ein." Und sie fügt hinzu:<lb/> „Wenn auf der einen Seite Noth und ewiger Druck den Menschen zu ver-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0287]
Sie kommt zuerst in ein großes Dorf von etwa 1000 Einwohnern. Im
entferntesten Winkel desselben lebt in elenden Lehmhütten eine bunt gemischte
Gesellschaft: entlassene Soldaten und herrschaftliche Bediente, arme Stadtbürger
und lautlos gewordene Bauern. „Aber nicht nur ärmlich, fährt sie fort, son¬
dern auch in beständiger Furcht lebte dieser Haufe von Elenden, über ihnen
hing fortwährend die Wetterwolke, welche bei der ersten kühnen Bewegung von
Seiten dieses halbverhungerter Ameisenhaufens sich entladen konnte. Und es
war schwer, Muth zu haben unter den Bedingungen, welche ihn umgaben.
Jedes Mitglied des Ameisenhaufens fürchtete jeden Tag für seine Existenz und
die Existenz seiner Habe. Die Alten und Kinder zitterten stets davor, daß der
Pvlizeikvsak sie im Staatsforste ertappe, aus dem sie auf ihren Schultern das
gefallene Holz holten, ohne welches sie buchstäblich ihre Hütten nicht heizen
konnten, weil sie weder Stroh noch Dünger besaßen. Die Weiber und Kinder
sannen nur darauf, früher aufzustehen als andere, um zuerst die seit der
Nacht zum Vorschein gekommenen Pilze und Beeren zu sammeln, denn glückt
das nicht, dann können sie nicht auf dem Markte erscheinen und folglich nicht
Grütze und Schmer einkaufen. Bauer und Bäuerin sehen betrübt zu, wie der
Wind ihre Gartenbeete mit Sand überschüttet, wie der hungrige, von der un¬
aufhörlichen Arbeit abgemagerte Ochse sich langsam nach Hause schleppt. Aber
etwas fürchteten die Bewohner der „Sandgrube" — fo hieß dieser Winkel
des Dorfes — mehr als Alles: das war der „Einbruch des Steuereinnehmers."
Sie schildert nun drastisch, wie der Gewaltige in Begleitung etwa des
Dorfschulzen und eines verabschiedeten Soldaten den nahenden Steuertermin
ankündigt, wie er dann, salls die Pflichtigen nicht rechtzeitig bezahlen, in ihren
Hütten eine heillose Verwüstung anrichtet, wie er die weißgetünchten Wände
und den Lehmofen mit Ruß beschmiert und Löcher in den letzteren schlägt, wie
er alle etwa vorhandenen Flüssigkeiten ausschüttet und das Thongeschirr zer¬
trümmert, während die Kinder sich verkriechen, die Weiber alles Geschirr und
alles Flüssige wegschaffen, um ihre Hütte, deren Reinlichkeit ihr ganzer Stolz
und ein Hauptgegenstand ihrer Arbeit ist, wenigstens vor dem Aergsten zu be¬
wahren, die Männer endlich ihren letzten Rock in der Schenke versetzen, um
eine Flasche Branntwein zur Besänftigung ihrer Peiniger zu kaufen.
Hier ist doch, wenn irgend wo, gewiß ein Boden für die radikalste Propa¬
ganda. Unsere Nihilistin macht die gegentheilige Erfahrung. „Die Leute
murren," schreibt sie, „verwünschen ihr Schicksal und ihre mächtigen Feinde, die
Behörden, aber die Stimme des Protestes erhebt sich nicht unter ihnen. „»Du
wirst nichts ausrichten, es ist klar, das ist uns so bestimmt,"" wandten mir
die Unglücklichen auf meine ehrlich gemeinten Reden ein." Und sie fügt hinzu:
„Wenn auf der einen Seite Noth und ewiger Druck den Menschen zu ver-
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