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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band.

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Leben des Auswärtigen Amtes entwickelt sich vor unseren Augen bis ins Ein¬
zelne, die wechselnde Stimmung der Mitglieder der Expedition wird sichtbar,
wir hören die Tischreden des Fürsten über Vergangenes und Gegenwärtiges
und zwar meist dem Wortlaut nach, ohne die übliche verschönern sollende Zu-
that, wir bekommen ausgeführte Charakterzeichnnngen von seinen hervorragenden
Räthen, während andere sich im Verlaufe der Erzählung durch die oder jene
Aeußerung selbst charakterisiren, und damit es nicht an Abwechselung fehle,
werden wir zuweilen auch auf die Schlachtfelder und nach Aussichtspunkten
geführt, die der Kanzler während des Krieges besuchte. Endlich sind anch
selten gewordene oder sür das größere Publikum ganz verloren gegangene
Aeußerungen der deutschen und ausländischen Presse eingeflochten, die geeignet
sind, über die öffentliche Meinung und den Stand der Dinge in den einzelnen
Phasen des weltgeschichtlichen Prozesses, von dem hier ein besonders interes¬
santer Ausschnitt vorliegt, Licht zu verbreiten.

Der Eine und der Andere mag diese Zeitungsartikel wegwünschen. Der
Verfasser aber kann deren ' Einschaltung mit einer Aeußerung des Kanzlers
rechtfertigen, die sich auf Seite 375 des zweiten Bandes findet und folgender¬
maßen lautet:

"Wenn sie einmal Geschichte schreiben darnach (nach Gesandtschaftsberichten
nämlich), so ist nichts Ordentliches daraus zu ersehen. Ich glaube, nach dreißig
Jahren werden ihnen die Archive geöffnet; man könnte sie viel eher hineinsehen
lassen. Die Depeschen und Berichte sind, auch wo sie einmal was enthalten,
solchen, welche die Personen und Verhältnisse nicht kennen, nicht verständlich.
Wer weiß da nach dreißig Jahren, was der Schreiber selbst für ein Mann
war, wie er die Dinge ansah, wie er sie seiner Individualität nach darstellte?
Und wer kennt die Personen allemal näher, von denen er berichtet? Man muß
wissen, was hat Gortschakoff oder was hat Gladstone oder Granville mit dem
gemeint, was der Gesandte berichtet? Eher sieht man noch was ans den Zei¬
tungen, deren sich die Regierungen ja auch bedienen, und wo man häufig
deutlicher sagt, was man will."

Auch sonst findet sich in den Mittheilungen des Verfassers Einiges, was
der eine oder der andere Leser als wenig bedeutend oder ganz irrelevant weg¬
wünschen kann, Wetterbeobachtungen z. B., Berichte über Culinarisches, über
gastronomische Neigungen des Kanzlers, über Jugenderinnerungen desselben und
andere Äußerlichkeiten und Kleinigkeiten. Er selbst hat das nach der Vorrede
gefühlt, aber man wird ihm bis zu einem gewissen Grade beipflichten müssen,
wenn er sich gegen dahingehende Vorwürfe folgendermaßen vertheidigt:

"Vieles von dem, was ich berichte oder schildere, wird Manchen als
Kleinigkeit oder Aeußerlichkeit erscheinen. Mir erscheint nichts so. Denn nicht


Leben des Auswärtigen Amtes entwickelt sich vor unseren Augen bis ins Ein¬
zelne, die wechselnde Stimmung der Mitglieder der Expedition wird sichtbar,
wir hören die Tischreden des Fürsten über Vergangenes und Gegenwärtiges
und zwar meist dem Wortlaut nach, ohne die übliche verschönern sollende Zu-
that, wir bekommen ausgeführte Charakterzeichnnngen von seinen hervorragenden
Räthen, während andere sich im Verlaufe der Erzählung durch die oder jene
Aeußerung selbst charakterisiren, und damit es nicht an Abwechselung fehle,
werden wir zuweilen auch auf die Schlachtfelder und nach Aussichtspunkten
geführt, die der Kanzler während des Krieges besuchte. Endlich sind anch
selten gewordene oder sür das größere Publikum ganz verloren gegangene
Aeußerungen der deutschen und ausländischen Presse eingeflochten, die geeignet
sind, über die öffentliche Meinung und den Stand der Dinge in den einzelnen
Phasen des weltgeschichtlichen Prozesses, von dem hier ein besonders interes¬
santer Ausschnitt vorliegt, Licht zu verbreiten.

Der Eine und der Andere mag diese Zeitungsartikel wegwünschen. Der
Verfasser aber kann deren ' Einschaltung mit einer Aeußerung des Kanzlers
rechtfertigen, die sich auf Seite 375 des zweiten Bandes findet und folgender¬
maßen lautet:

„Wenn sie einmal Geschichte schreiben darnach (nach Gesandtschaftsberichten
nämlich), so ist nichts Ordentliches daraus zu ersehen. Ich glaube, nach dreißig
Jahren werden ihnen die Archive geöffnet; man könnte sie viel eher hineinsehen
lassen. Die Depeschen und Berichte sind, auch wo sie einmal was enthalten,
solchen, welche die Personen und Verhältnisse nicht kennen, nicht verständlich.
Wer weiß da nach dreißig Jahren, was der Schreiber selbst für ein Mann
war, wie er die Dinge ansah, wie er sie seiner Individualität nach darstellte?
Und wer kennt die Personen allemal näher, von denen er berichtet? Man muß
wissen, was hat Gortschakoff oder was hat Gladstone oder Granville mit dem
gemeint, was der Gesandte berichtet? Eher sieht man noch was ans den Zei¬
tungen, deren sich die Regierungen ja auch bedienen, und wo man häufig
deutlicher sagt, was man will."

Auch sonst findet sich in den Mittheilungen des Verfassers Einiges, was
der eine oder der andere Leser als wenig bedeutend oder ganz irrelevant weg¬
wünschen kann, Wetterbeobachtungen z. B., Berichte über Culinarisches, über
gastronomische Neigungen des Kanzlers, über Jugenderinnerungen desselben und
andere Äußerlichkeiten und Kleinigkeiten. Er selbst hat das nach der Vorrede
gefühlt, aber man wird ihm bis zu einem gewissen Grade beipflichten müssen,
wenn er sich gegen dahingehende Vorwürfe folgendermaßen vertheidigt:

„Vieles von dem, was ich berichte oder schildere, wird Manchen als
Kleinigkeit oder Aeußerlichkeit erscheinen. Mir erscheint nichts so. Denn nicht


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[0273] Leben des Auswärtigen Amtes entwickelt sich vor unseren Augen bis ins Ein¬ zelne, die wechselnde Stimmung der Mitglieder der Expedition wird sichtbar, wir hören die Tischreden des Fürsten über Vergangenes und Gegenwärtiges und zwar meist dem Wortlaut nach, ohne die übliche verschönern sollende Zu- that, wir bekommen ausgeführte Charakterzeichnnngen von seinen hervorragenden Räthen, während andere sich im Verlaufe der Erzählung durch die oder jene Aeußerung selbst charakterisiren, und damit es nicht an Abwechselung fehle, werden wir zuweilen auch auf die Schlachtfelder und nach Aussichtspunkten geführt, die der Kanzler während des Krieges besuchte. Endlich sind anch selten gewordene oder sür das größere Publikum ganz verloren gegangene Aeußerungen der deutschen und ausländischen Presse eingeflochten, die geeignet sind, über die öffentliche Meinung und den Stand der Dinge in den einzelnen Phasen des weltgeschichtlichen Prozesses, von dem hier ein besonders interes¬ santer Ausschnitt vorliegt, Licht zu verbreiten. Der Eine und der Andere mag diese Zeitungsartikel wegwünschen. Der Verfasser aber kann deren ' Einschaltung mit einer Aeußerung des Kanzlers rechtfertigen, die sich auf Seite 375 des zweiten Bandes findet und folgender¬ maßen lautet: „Wenn sie einmal Geschichte schreiben darnach (nach Gesandtschaftsberichten nämlich), so ist nichts Ordentliches daraus zu ersehen. Ich glaube, nach dreißig Jahren werden ihnen die Archive geöffnet; man könnte sie viel eher hineinsehen lassen. Die Depeschen und Berichte sind, auch wo sie einmal was enthalten, solchen, welche die Personen und Verhältnisse nicht kennen, nicht verständlich. Wer weiß da nach dreißig Jahren, was der Schreiber selbst für ein Mann war, wie er die Dinge ansah, wie er sie seiner Individualität nach darstellte? Und wer kennt die Personen allemal näher, von denen er berichtet? Man muß wissen, was hat Gortschakoff oder was hat Gladstone oder Granville mit dem gemeint, was der Gesandte berichtet? Eher sieht man noch was ans den Zei¬ tungen, deren sich die Regierungen ja auch bedienen, und wo man häufig deutlicher sagt, was man will." Auch sonst findet sich in den Mittheilungen des Verfassers Einiges, was der eine oder der andere Leser als wenig bedeutend oder ganz irrelevant weg¬ wünschen kann, Wetterbeobachtungen z. B., Berichte über Culinarisches, über gastronomische Neigungen des Kanzlers, über Jugenderinnerungen desselben und andere Äußerlichkeiten und Kleinigkeiten. Er selbst hat das nach der Vorrede gefühlt, aber man wird ihm bis zu einem gewissen Grade beipflichten müssen, wenn er sich gegen dahingehende Vorwürfe folgendermaßen vertheidigt: „Vieles von dem, was ich berichte oder schildere, wird Manchen als Kleinigkeit oder Aeußerlichkeit erscheinen. Mir erscheint nichts so. Denn nicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670/273>, abgerufen am 05.02.2025.