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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band.

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ung der Wahrheit und Natürlichkeit auf der Bühne hat ihre volle Berechtigung,
nur muß man sich an die Vorschriften erinnern, die Hamlet den Schauspielern
gibt, und bedenken, daß, wenn das Streben nach Natnrwcchrheit dominirt, wenn
es nicht durch das Streben nach Schönheit unaufhörlich controlirt und in
Schranken gehalten wird, es leicht zu abstoßendem Naturalismus führt. "Zunächst
bedenke der Schauspieler", sagt Goethe, "daß er nicht allein die Natur nachahmen,
sondern sie auch idealisch vorstellen solle und er also in seiner Darstellung
das Wahre mit dem Schönen zu vereinen habe." Erst durch diese Vereinigung
entsteht das, was man "stilvolle" Darstellung nennt. Kunst bleibt eben Kunst,
sie darf und kann nie Natur werden. Wie die bildende Kunst, wenn sie nicht
in Naturalismus verfallen will, vielfach sich mit Andeutungen und Abbrevia¬
turen behelfen, vielfach stilisiren muß, so auch die Schauspielkunst, diese lebendige
bildende Kunst. Mit voller Naturwahrheit können und dürfen tumultuarische
Volksszenen auf der Bühne nicht erscheinen. Plötzlich und wie auf Kommando
ausbrechendes Geschrei der Massen, sei es auf dem römischen Forum oder
in den böhmischen Wäldern, es wirkt auf der Bühne immer als unschöne
Uebertreibung, und wenn nun vollends -- die Galerie wird ja, heute so gut
wie zu Lessing's Zeit, selten ermangeln, "Gute Lungen mit lauten Händen zu
erwiedern" -- der Vorhang sich wieder hebt und die Masse abermals wie auf
Kommando ihr Geschrei anstimme - vereinige das mit seinein Geschmack wer
da will -- uns ist es als eine Ueberschreitung der Grenzen der Schauspiel¬
kunst erschienen. Nicht minder aber das langanhaltende, ganz naturalistische
Gelächter in den Clownszenen von "Was ihr wollt", die übertrieben zapplige
und geschäftige, an das Kribbeln in einem Raupennest erinnernde Beweglich¬
keit, mit der die Massen bisweilen die Rede eines Einzelnen oder einen Dialog
begleiten. Im Leben gewährt eine Volksmenge bei solcher Gelegenheit nicht
einmal diesen Anblick, denn die Menschen sind uicht alle einerlei Temperaments,
und wenn sie ihn gewährte, so dürfte er auf der Bühne nicht nachgeahmt
werden.

Aber auch die reiche und stilgetreue Ausstattung der Stücke hat eine kleine
Schattenseite, wenigstens ist es uns in den ersten Aufführungen so erschienen:
sie zieht von der Handlung ab. Und zwar waltet hier eine eigne Ironie. Dem
harmlosen Zuschauer aus der großen Masse ist es höchst gleichgiltig, ob ein
römischer Krieger aus Caesar's Zeit mit archäologischer Genauigkeit behelmt
ist, oder ob er eine Blechhcinbe trägt, die den nächsten Abend ein Knecht des
Götz von Berlichingen oder ein Pappenheim'scher Kürassier auf dem Kopfe haben
wird. Je gebildeter und kenntnißreicher der Zuschauer ist, desto mehr wird
sich die kritische Ader in ihm regen, desto mehr werden ihn auch diese Neben¬
dinge interessiren, und er wird dabei verweilen, ohne auf die Haupt-


Grenzboten IV. 1878. 2S

ung der Wahrheit und Natürlichkeit auf der Bühne hat ihre volle Berechtigung,
nur muß man sich an die Vorschriften erinnern, die Hamlet den Schauspielern
gibt, und bedenken, daß, wenn das Streben nach Natnrwcchrheit dominirt, wenn
es nicht durch das Streben nach Schönheit unaufhörlich controlirt und in
Schranken gehalten wird, es leicht zu abstoßendem Naturalismus führt. „Zunächst
bedenke der Schauspieler", sagt Goethe, „daß er nicht allein die Natur nachahmen,
sondern sie auch idealisch vorstellen solle und er also in seiner Darstellung
das Wahre mit dem Schönen zu vereinen habe." Erst durch diese Vereinigung
entsteht das, was man „stilvolle" Darstellung nennt. Kunst bleibt eben Kunst,
sie darf und kann nie Natur werden. Wie die bildende Kunst, wenn sie nicht
in Naturalismus verfallen will, vielfach sich mit Andeutungen und Abbrevia¬
turen behelfen, vielfach stilisiren muß, so auch die Schauspielkunst, diese lebendige
bildende Kunst. Mit voller Naturwahrheit können und dürfen tumultuarische
Volksszenen auf der Bühne nicht erscheinen. Plötzlich und wie auf Kommando
ausbrechendes Geschrei der Massen, sei es auf dem römischen Forum oder
in den böhmischen Wäldern, es wirkt auf der Bühne immer als unschöne
Uebertreibung, und wenn nun vollends — die Galerie wird ja, heute so gut
wie zu Lessing's Zeit, selten ermangeln, „Gute Lungen mit lauten Händen zu
erwiedern" — der Vorhang sich wieder hebt und die Masse abermals wie auf
Kommando ihr Geschrei anstimme - vereinige das mit seinein Geschmack wer
da will — uns ist es als eine Ueberschreitung der Grenzen der Schauspiel¬
kunst erschienen. Nicht minder aber das langanhaltende, ganz naturalistische
Gelächter in den Clownszenen von „Was ihr wollt", die übertrieben zapplige
und geschäftige, an das Kribbeln in einem Raupennest erinnernde Beweglich¬
keit, mit der die Massen bisweilen die Rede eines Einzelnen oder einen Dialog
begleiten. Im Leben gewährt eine Volksmenge bei solcher Gelegenheit nicht
einmal diesen Anblick, denn die Menschen sind uicht alle einerlei Temperaments,
und wenn sie ihn gewährte, so dürfte er auf der Bühne nicht nachgeahmt
werden.

Aber auch die reiche und stilgetreue Ausstattung der Stücke hat eine kleine
Schattenseite, wenigstens ist es uns in den ersten Aufführungen so erschienen:
sie zieht von der Handlung ab. Und zwar waltet hier eine eigne Ironie. Dem
harmlosen Zuschauer aus der großen Masse ist es höchst gleichgiltig, ob ein
römischer Krieger aus Caesar's Zeit mit archäologischer Genauigkeit behelmt
ist, oder ob er eine Blechhcinbe trägt, die den nächsten Abend ein Knecht des
Götz von Berlichingen oder ein Pappenheim'scher Kürassier auf dem Kopfe haben
wird. Je gebildeter und kenntnißreicher der Zuschauer ist, desto mehr wird
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dinge interessiren, und er wird dabei verweilen, ohne auf die Haupt-


Grenzboten IV. 1878. 2S
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[0197] ung der Wahrheit und Natürlichkeit auf der Bühne hat ihre volle Berechtigung, nur muß man sich an die Vorschriften erinnern, die Hamlet den Schauspielern gibt, und bedenken, daß, wenn das Streben nach Natnrwcchrheit dominirt, wenn es nicht durch das Streben nach Schönheit unaufhörlich controlirt und in Schranken gehalten wird, es leicht zu abstoßendem Naturalismus führt. „Zunächst bedenke der Schauspieler", sagt Goethe, „daß er nicht allein die Natur nachahmen, sondern sie auch idealisch vorstellen solle und er also in seiner Darstellung das Wahre mit dem Schönen zu vereinen habe." Erst durch diese Vereinigung entsteht das, was man „stilvolle" Darstellung nennt. Kunst bleibt eben Kunst, sie darf und kann nie Natur werden. Wie die bildende Kunst, wenn sie nicht in Naturalismus verfallen will, vielfach sich mit Andeutungen und Abbrevia¬ turen behelfen, vielfach stilisiren muß, so auch die Schauspielkunst, diese lebendige bildende Kunst. Mit voller Naturwahrheit können und dürfen tumultuarische Volksszenen auf der Bühne nicht erscheinen. Plötzlich und wie auf Kommando ausbrechendes Geschrei der Massen, sei es auf dem römischen Forum oder in den böhmischen Wäldern, es wirkt auf der Bühne immer als unschöne Uebertreibung, und wenn nun vollends — die Galerie wird ja, heute so gut wie zu Lessing's Zeit, selten ermangeln, „Gute Lungen mit lauten Händen zu erwiedern" — der Vorhang sich wieder hebt und die Masse abermals wie auf Kommando ihr Geschrei anstimme - vereinige das mit seinein Geschmack wer da will — uns ist es als eine Ueberschreitung der Grenzen der Schauspiel¬ kunst erschienen. Nicht minder aber das langanhaltende, ganz naturalistische Gelächter in den Clownszenen von „Was ihr wollt", die übertrieben zapplige und geschäftige, an das Kribbeln in einem Raupennest erinnernde Beweglich¬ keit, mit der die Massen bisweilen die Rede eines Einzelnen oder einen Dialog begleiten. Im Leben gewährt eine Volksmenge bei solcher Gelegenheit nicht einmal diesen Anblick, denn die Menschen sind uicht alle einerlei Temperaments, und wenn sie ihn gewährte, so dürfte er auf der Bühne nicht nachgeahmt werden. Aber auch die reiche und stilgetreue Ausstattung der Stücke hat eine kleine Schattenseite, wenigstens ist es uns in den ersten Aufführungen so erschienen: sie zieht von der Handlung ab. Und zwar waltet hier eine eigne Ironie. Dem harmlosen Zuschauer aus der großen Masse ist es höchst gleichgiltig, ob ein römischer Krieger aus Caesar's Zeit mit archäologischer Genauigkeit behelmt ist, oder ob er eine Blechhcinbe trägt, die den nächsten Abend ein Knecht des Götz von Berlichingen oder ein Pappenheim'scher Kürassier auf dem Kopfe haben wird. Je gebildeter und kenntnißreicher der Zuschauer ist, desto mehr wird sich die kritische Ader in ihm regen, desto mehr werden ihn auch diese Neben¬ dinge interessiren, und er wird dabei verweilen, ohne auf die Haupt- Grenzboten IV. 1878. 2S

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670/197>, abgerufen am 05.02.2025.