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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band.

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haltlich keine Vorstellungen hervor, er ist insofern passiv, nicht aktiv. Strenger
ist der Sensualismns bei David Hume ausgebildet. Er ersetzt die formelle
Thätigkeit des Denkens durch die Associationen der ans den Empfindungen
entstehenden Reihen und Gruppen von Vorstellungen, die nach eignen Gesetzen
erfolgen, aus denen Gewohnheiten sich ergeben, die alles im Leben der Seele
erklären sollen. Hierbei wird aber übersehen, daß Gewohnheiten nur dann
sich in der Seele bilden können, wenn diese eine innere'Thätigkeit ist.

Die dritte Entivicklungsstnfe vertritt Condillac. Er leitet aus den
Sinnen Inhalt und Form des geistigen Lebens ab und beschränkt alle Wissen¬
schaft ans die Kenntniß unsrer Empfindungen. Was darüber hinausgeht, liegt
außerhalb unsres Wissens. In Condillac tritt der skeptische Charakter des
Empirismus deutlich hervor. Wie ist nun der Materialismus entstanden,
der geschichtlich deu Sensualismus abgelöst hat? Unmittelbar ist Letzterer nicht
für ihn verantwortlich zu machen, denn er ist nur eine Theorie über den Ur-,
sprung der Erkenntniß und verhält sich deu Fragen gegenüber, welche der
Materialismus beantwortet, skeptisch. Der Materialismus stammt aus einem
Dogmatismus, der willkührliche Annahmen zu Glaubenssätzen erhebt. Mittelbar
wird aber der Sensualismns für den Materialismus haften müssen, insofern
er das geistige Leben nach seinem übersinnlichen Charakter geleugnet und auf
eine Sammlung und Ordnung sinnlicher Eindrücke reduzirt hat.

Der neue Gesichtspunkt, den K ant zur Geltung bringt, ist darin zu suchen,
daß er Körper und Geist als verschiedene Erscheinungsformen des Dinges an
sich angesehen hat, den Körper als die äußere, den Geist als die innere.
Jener wird von der äußern Wahrnehmung in der Form des Raums, dieser
von der innern in der Form der Zeit angeschaut. Das ist der Standort der Kritik
der reinen Vernunft. Eine Ergänzung desselben bildet die Kritik der praktischen
Vernunft, in welcher der sittlich handelnde Geist sich als Ding an sich erkennt,
daraus ergibt sich das Postulat der Freiheit und der Unsterblichkeit der Seele.

Die Vermögen der Seele erkennt Kant als thatsächlich gegeben an; in
Uebereinstimmung mit Lessing und Jacobi hat er das Gefühlsvermögen der
Lust und Unlust als drittes zu dem Erkenntniß- und Begehrungsvermögen
hinzugefügt.

In der Erkenntniß unterscheidet er als Elemente die Anschauungen aus
der Receptivität der Sinne und die Begriffe aus der Spontaneität des Geistes.
Die Letztere begreift in sich den Verstand, der auf die Welt des Endlichen und
Bedingten gerichtet ist, und die Vernunft, welche sich ans das Unendliche bezieht.

Das Begehrungsvermögen wird als entweder abhängig von den Gegen¬
ständen und der sie begleitenden Lust oder Unlust oder als von der Freiheit
des Willens bestimmt gedacht. Der sittliche Mensch handelt unabhängig von


haltlich keine Vorstellungen hervor, er ist insofern passiv, nicht aktiv. Strenger
ist der Sensualismns bei David Hume ausgebildet. Er ersetzt die formelle
Thätigkeit des Denkens durch die Associationen der ans den Empfindungen
entstehenden Reihen und Gruppen von Vorstellungen, die nach eignen Gesetzen
erfolgen, aus denen Gewohnheiten sich ergeben, die alles im Leben der Seele
erklären sollen. Hierbei wird aber übersehen, daß Gewohnheiten nur dann
sich in der Seele bilden können, wenn diese eine innere'Thätigkeit ist.

Die dritte Entivicklungsstnfe vertritt Condillac. Er leitet aus den
Sinnen Inhalt und Form des geistigen Lebens ab und beschränkt alle Wissen¬
schaft ans die Kenntniß unsrer Empfindungen. Was darüber hinausgeht, liegt
außerhalb unsres Wissens. In Condillac tritt der skeptische Charakter des
Empirismus deutlich hervor. Wie ist nun der Materialismus entstanden,
der geschichtlich deu Sensualismus abgelöst hat? Unmittelbar ist Letzterer nicht
für ihn verantwortlich zu machen, denn er ist nur eine Theorie über den Ur-,
sprung der Erkenntniß und verhält sich deu Fragen gegenüber, welche der
Materialismus beantwortet, skeptisch. Der Materialismus stammt aus einem
Dogmatismus, der willkührliche Annahmen zu Glaubenssätzen erhebt. Mittelbar
wird aber der Sensualismns für den Materialismus haften müssen, insofern
er das geistige Leben nach seinem übersinnlichen Charakter geleugnet und auf
eine Sammlung und Ordnung sinnlicher Eindrücke reduzirt hat.

Der neue Gesichtspunkt, den K ant zur Geltung bringt, ist darin zu suchen,
daß er Körper und Geist als verschiedene Erscheinungsformen des Dinges an
sich angesehen hat, den Körper als die äußere, den Geist als die innere.
Jener wird von der äußern Wahrnehmung in der Form des Raums, dieser
von der innern in der Form der Zeit angeschaut. Das ist der Standort der Kritik
der reinen Vernunft. Eine Ergänzung desselben bildet die Kritik der praktischen
Vernunft, in welcher der sittlich handelnde Geist sich als Ding an sich erkennt,
daraus ergibt sich das Postulat der Freiheit und der Unsterblichkeit der Seele.

Die Vermögen der Seele erkennt Kant als thatsächlich gegeben an; in
Uebereinstimmung mit Lessing und Jacobi hat er das Gefühlsvermögen der
Lust und Unlust als drittes zu dem Erkenntniß- und Begehrungsvermögen
hinzugefügt.

In der Erkenntniß unterscheidet er als Elemente die Anschauungen aus
der Receptivität der Sinne und die Begriffe aus der Spontaneität des Geistes.
Die Letztere begreift in sich den Verstand, der auf die Welt des Endlichen und
Bedingten gerichtet ist, und die Vernunft, welche sich ans das Unendliche bezieht.

Das Begehrungsvermögen wird als entweder abhängig von den Gegen¬
ständen und der sie begleitenden Lust oder Unlust oder als von der Freiheit
des Willens bestimmt gedacht. Der sittliche Mensch handelt unabhängig von


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670/176>, abgerufen am 05.02.2025.