Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

unterstützen. Dagegen waren mehrere der brennendsten Fragen in der Thron¬
rede mit Stillschweigen Übergängen. Deshalb, und um dem allgemeinen Be¬
dürfniß zu entsprechen, welches eine offene Aussprache über die reichlich vor¬
handenen Beschwerden erheischte, wurde selbst von der ersten Kammer diesmal
zum Erlaß einer Adresse die Hand geboten. Selbst die Regierung fühlte bei
Beginn der Adreßdebatten das Bedürfniß ihrer Rechtfertigung. Könneritz ver¬
las eine ausführliche Vertheidigungsschrift seines Regimentes, welche um so
weniger befriedigte, da er mit der Behauptung, daß die Verfassung eine dem
Zeitbewußtsein nachgebende Entwickelung überhaupt nicht gestatte, den lautesten
Forderungen des Volkes eine schroffe Kriegserklärung entgegen warf. Noch
unglücklicher in seinem Debüt vor der Kammer war wo möglich derjenige
Minister, auf welchen der Liberalismus früher die größten Hoffnungen gesetzt,
Herr von Falkenstein, welcher sich dazu berufen fühlte, der Stadt Leipzig den
Rath zu ertheilen, "den Weg der Selbsterkenntniß zu betreten und sich wieder¬
zufinden," ja der sich sogar zum Vertheidiger der Zensur aufwarf. Mit wuch¬
tigen Worten traten Brockhaus und der konservative Poppe diesem anmaßlichen
Urtheil entgegen; und selbst in der ersten Kammer erklärte später am 19. Nov.
Dr. Crusius: "Leipzig braucht nicht erst zum Selbstbewußtsein zu kommen,
es braucht sich nicht erst wiederzufinden, denn es hat sich nie verloren."

Ihren absolut reaktionären Standpunkt trug die Negierung insbesondere
zur Schau allen Anträgen, Petitionen und Verhandlungen gegenüber, die eine
Abstellung der wahrhaft unerträglichen Zensurplackereien und Konzessionsent¬
ziehungen, überhaupt eine Entfesselung des freien gedruckten Gedankens aus
jenen Banden bezweckten, mit welchen diese Negierung unaushörlich und scho¬
nungslos die ganze inländische Presse und unliebsame Preßerzeugnisse umstrickte.

Die schroffe Unbeugsamkeit der Regierung in der Frage der Reform der
sächsischen Preßzustände erklärte sich, abgesehen von ihrem hervorragend bor-
nirten Standpunkte, welcher Zeitströmungen und selbst Meinungen mit Poli¬
zeimaßregeln unterdrücken zu können glaubte, hauptsächlich dadurch, daß in
dieser Frage fast die ganze erste Kammer hinter der Regierung stand. Mit
offener Schadenfreude über die Verfolgungen der verhaßten Presse, stimmte
dieses erlauchte Haus der Regierung in der Hauptsache durchaus bei , verwarf
namentlich den Antrag der zweiten Kammer, daß auch nur eine baldige gesetz¬
liche Ordnung des Konzessionswesens der Presse stattfinden möge!

Welches Schicksal bei diesem Bestände der ersten Kammer jene Petition
Biedermann's und seiner 1800 Genossen beim Landtag haben werde, welche



") Ueber das Fönende zu vergl. Landtagsmitthcilungen 1346/46. - Flathe,
a. a. O, S. 349 fig. -- Gegenwart, S, Band. S. 683. fig.

unterstützen. Dagegen waren mehrere der brennendsten Fragen in der Thron¬
rede mit Stillschweigen Übergängen. Deshalb, und um dem allgemeinen Be¬
dürfniß zu entsprechen, welches eine offene Aussprache über die reichlich vor¬
handenen Beschwerden erheischte, wurde selbst von der ersten Kammer diesmal
zum Erlaß einer Adresse die Hand geboten. Selbst die Regierung fühlte bei
Beginn der Adreßdebatten das Bedürfniß ihrer Rechtfertigung. Könneritz ver¬
las eine ausführliche Vertheidigungsschrift seines Regimentes, welche um so
weniger befriedigte, da er mit der Behauptung, daß die Verfassung eine dem
Zeitbewußtsein nachgebende Entwickelung überhaupt nicht gestatte, den lautesten
Forderungen des Volkes eine schroffe Kriegserklärung entgegen warf. Noch
unglücklicher in seinem Debüt vor der Kammer war wo möglich derjenige
Minister, auf welchen der Liberalismus früher die größten Hoffnungen gesetzt,
Herr von Falkenstein, welcher sich dazu berufen fühlte, der Stadt Leipzig den
Rath zu ertheilen, „den Weg der Selbsterkenntniß zu betreten und sich wieder¬
zufinden," ja der sich sogar zum Vertheidiger der Zensur aufwarf. Mit wuch¬
tigen Worten traten Brockhaus und der konservative Poppe diesem anmaßlichen
Urtheil entgegen; und selbst in der ersten Kammer erklärte später am 19. Nov.
Dr. Crusius: „Leipzig braucht nicht erst zum Selbstbewußtsein zu kommen,
es braucht sich nicht erst wiederzufinden, denn es hat sich nie verloren."

Ihren absolut reaktionären Standpunkt trug die Negierung insbesondere
zur Schau allen Anträgen, Petitionen und Verhandlungen gegenüber, die eine
Abstellung der wahrhaft unerträglichen Zensurplackereien und Konzessionsent¬
ziehungen, überhaupt eine Entfesselung des freien gedruckten Gedankens aus
jenen Banden bezweckten, mit welchen diese Negierung unaushörlich und scho¬
nungslos die ganze inländische Presse und unliebsame Preßerzeugnisse umstrickte.

Die schroffe Unbeugsamkeit der Regierung in der Frage der Reform der
sächsischen Preßzustände erklärte sich, abgesehen von ihrem hervorragend bor-
nirten Standpunkte, welcher Zeitströmungen und selbst Meinungen mit Poli¬
zeimaßregeln unterdrücken zu können glaubte, hauptsächlich dadurch, daß in
dieser Frage fast die ganze erste Kammer hinter der Regierung stand. Mit
offener Schadenfreude über die Verfolgungen der verhaßten Presse, stimmte
dieses erlauchte Haus der Regierung in der Hauptsache durchaus bei , verwarf
namentlich den Antrag der zweiten Kammer, daß auch nur eine baldige gesetz¬
liche Ordnung des Konzessionswesens der Presse stattfinden möge!

Welches Schicksal bei diesem Bestände der ersten Kammer jene Petition
Biedermann's und seiner 1800 Genossen beim Landtag haben werde, welche



") Ueber das Fönende zu vergl. Landtagsmitthcilungen 1346/46. - Flathe,
a. a. O, S. 349 fig. — Gegenwart, S, Band. S. 683. fig.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0146" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/141025"/>
          <p xml:id="ID_469" prev="#ID_468"> unterstützen. Dagegen waren mehrere der brennendsten Fragen in der Thron¬<lb/>
rede mit Stillschweigen Übergängen. Deshalb, und um dem allgemeinen Be¬<lb/>
dürfniß zu entsprechen, welches eine offene Aussprache über die reichlich vor¬<lb/>
handenen Beschwerden erheischte, wurde selbst von der ersten Kammer diesmal<lb/>
zum Erlaß einer Adresse die Hand geboten. Selbst die Regierung fühlte bei<lb/>
Beginn der Adreßdebatten das Bedürfniß ihrer Rechtfertigung. Könneritz ver¬<lb/>
las eine ausführliche Vertheidigungsschrift seines Regimentes, welche um so<lb/>
weniger befriedigte, da er mit der Behauptung, daß die Verfassung eine dem<lb/>
Zeitbewußtsein nachgebende Entwickelung überhaupt nicht gestatte, den lautesten<lb/>
Forderungen des Volkes eine schroffe Kriegserklärung entgegen warf. Noch<lb/>
unglücklicher in seinem Debüt vor der Kammer war wo möglich derjenige<lb/>
Minister, auf welchen der Liberalismus früher die größten Hoffnungen gesetzt,<lb/>
Herr von Falkenstein, welcher sich dazu berufen fühlte, der Stadt Leipzig den<lb/>
Rath zu ertheilen, &#x201E;den Weg der Selbsterkenntniß zu betreten und sich wieder¬<lb/>
zufinden," ja der sich sogar zum Vertheidiger der Zensur aufwarf. Mit wuch¬<lb/>
tigen Worten traten Brockhaus und der konservative Poppe diesem anmaßlichen<lb/>
Urtheil entgegen; und selbst in der ersten Kammer erklärte später am 19. Nov.<lb/>
Dr. Crusius: &#x201E;Leipzig braucht nicht erst zum Selbstbewußtsein zu kommen,<lb/>
es braucht sich nicht erst wiederzufinden, denn es hat sich nie verloren."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_470"> Ihren absolut reaktionären Standpunkt trug die Negierung insbesondere<lb/>
zur Schau allen Anträgen, Petitionen und Verhandlungen gegenüber, die eine<lb/>
Abstellung der wahrhaft unerträglichen Zensurplackereien und Konzessionsent¬<lb/>
ziehungen, überhaupt eine Entfesselung des freien gedruckten Gedankens aus<lb/>
jenen Banden bezweckten, mit welchen diese Negierung unaushörlich und scho¬<lb/>
nungslos die ganze inländische Presse und unliebsame Preßerzeugnisse umstrickte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_471"> Die schroffe Unbeugsamkeit der Regierung in der Frage der Reform der<lb/>
sächsischen Preßzustände erklärte sich, abgesehen von ihrem hervorragend bor-<lb/>
nirten Standpunkte, welcher Zeitströmungen und selbst Meinungen mit Poli¬<lb/>
zeimaßregeln unterdrücken zu können glaubte, hauptsächlich dadurch, daß in<lb/>
dieser Frage fast die ganze erste Kammer hinter der Regierung stand. Mit<lb/>
offener Schadenfreude über die Verfolgungen der verhaßten Presse, stimmte<lb/>
dieses erlauchte Haus der Regierung in der Hauptsache durchaus bei , verwarf<lb/>
namentlich den Antrag der zweiten Kammer, daß auch nur eine baldige gesetz¬<lb/>
liche Ordnung des Konzessionswesens der Presse stattfinden möge!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_472" next="#ID_473"> Welches Schicksal bei diesem Bestände der ersten Kammer jene Petition<lb/>
Biedermann's und seiner 1800 Genossen beim Landtag haben werde, welche</p><lb/>
          <note xml:id="FID_50" place="foot"> ") Ueber das Fönende zu vergl. Landtagsmitthcilungen 1346/46. - Flathe,<lb/>
a. a. O, S. 349 fig. &#x2014; Gegenwart, S, Band. S. 683. fig.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0146] unterstützen. Dagegen waren mehrere der brennendsten Fragen in der Thron¬ rede mit Stillschweigen Übergängen. Deshalb, und um dem allgemeinen Be¬ dürfniß zu entsprechen, welches eine offene Aussprache über die reichlich vor¬ handenen Beschwerden erheischte, wurde selbst von der ersten Kammer diesmal zum Erlaß einer Adresse die Hand geboten. Selbst die Regierung fühlte bei Beginn der Adreßdebatten das Bedürfniß ihrer Rechtfertigung. Könneritz ver¬ las eine ausführliche Vertheidigungsschrift seines Regimentes, welche um so weniger befriedigte, da er mit der Behauptung, daß die Verfassung eine dem Zeitbewußtsein nachgebende Entwickelung überhaupt nicht gestatte, den lautesten Forderungen des Volkes eine schroffe Kriegserklärung entgegen warf. Noch unglücklicher in seinem Debüt vor der Kammer war wo möglich derjenige Minister, auf welchen der Liberalismus früher die größten Hoffnungen gesetzt, Herr von Falkenstein, welcher sich dazu berufen fühlte, der Stadt Leipzig den Rath zu ertheilen, „den Weg der Selbsterkenntniß zu betreten und sich wieder¬ zufinden," ja der sich sogar zum Vertheidiger der Zensur aufwarf. Mit wuch¬ tigen Worten traten Brockhaus und der konservative Poppe diesem anmaßlichen Urtheil entgegen; und selbst in der ersten Kammer erklärte später am 19. Nov. Dr. Crusius: „Leipzig braucht nicht erst zum Selbstbewußtsein zu kommen, es braucht sich nicht erst wiederzufinden, denn es hat sich nie verloren." Ihren absolut reaktionären Standpunkt trug die Negierung insbesondere zur Schau allen Anträgen, Petitionen und Verhandlungen gegenüber, die eine Abstellung der wahrhaft unerträglichen Zensurplackereien und Konzessionsent¬ ziehungen, überhaupt eine Entfesselung des freien gedruckten Gedankens aus jenen Banden bezweckten, mit welchen diese Negierung unaushörlich und scho¬ nungslos die ganze inländische Presse und unliebsame Preßerzeugnisse umstrickte. Die schroffe Unbeugsamkeit der Regierung in der Frage der Reform der sächsischen Preßzustände erklärte sich, abgesehen von ihrem hervorragend bor- nirten Standpunkte, welcher Zeitströmungen und selbst Meinungen mit Poli¬ zeimaßregeln unterdrücken zu können glaubte, hauptsächlich dadurch, daß in dieser Frage fast die ganze erste Kammer hinter der Regierung stand. Mit offener Schadenfreude über die Verfolgungen der verhaßten Presse, stimmte dieses erlauchte Haus der Regierung in der Hauptsache durchaus bei , verwarf namentlich den Antrag der zweiten Kammer, daß auch nur eine baldige gesetz¬ liche Ordnung des Konzessionswesens der Presse stattfinden möge! Welches Schicksal bei diesem Bestände der ersten Kammer jene Petition Biedermann's und seiner 1800 Genossen beim Landtag haben werde, welche ") Ueber das Fönende zu vergl. Landtagsmitthcilungen 1346/46. - Flathe, a. a. O, S. 349 fig. — Gegenwart, S, Band. S. 683. fig.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670/146
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670/146>, abgerufen am 05.02.2025.