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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band.

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schiedenen Ausgaben zu registriren und jeden einzelnen Versfuß zu bestimmen,
auch umschreibt er den Inhalt nicht in einer jener prosaischen Paraphrasen,
welche die unnachahmliche Spezialität der Diintzer'schen Kommentare bilden.
Er weiß eben, für wen er schreibt, worüber sich der deutsche Erklärer, der seine
Kommentare womöglich gleichzeitig für den "Goetheforscher" -- daher die Les¬
arten -- und für den Schulknaben -- daher die Versfüße und die Para¬
phrasen -- einrichten möchte, nie klar zu sein scheint. Aber das, was er
giebt, und die Art, wie er es giebt, verdient vielfach den Vorzug vor den
deutschen Kommentaren.

Wie anschaulich gruppirt er gleich am Anfange die Aktenstücke über die
Entstehungszeit des Gedichtes, so, daß der Widerspruch, der zwischen ihnen
herrscht, von selbst in die Augen springt! Bei Viehoff und Düntzer ist dies
nicht halb so geschickt geschehen. Mit welcher psychologischen Feinheit löst er
den Widerspruch dann auf! Viehoff nimmt an, daß Goethe das Gedicht in
Wetzlar nochmals "um- und durchgearbeitet" habe und überläßt es im Uebrigen
dem Leser, die Behauptung Goethe's, daß er das Gedicht in Wetzlar angesichts
von Lotte's zukünftigen Glück geschrieben habe, "auf das rechte Maß zurück¬
zuführen." Düntzer meint, diese Behauptung Goethe's müsse "auf einer Ver¬
wechslung beruhen"; wenn er auch das Gedicht in Wetzlar "noch einmal durch¬
genommen" haben möge, so sei es doch "unbegründet", es für eine Allegorie
auf sich und Lotte auszugeben. Lichtenberger versucht den Widerspruch in einer
Weise zu lösen, daß weder eine plumpe Verschiebung der Thatsachen noch eine
gewöhnliche Gedankenlosigkeit angenommen zu werden braucht.

Ferner sind in keinem der beiden deutschen Kommentare die ursprünglichen
Beziehungen des Gedichtes vollständig nachgewiesen. Der antiken Trümmer
von Niederbronn gedenken sie beide, aber damit ist nur die Hälfte des Gedichtes
erklärt. Die andere Hälfte wird erst verständlich, wenn man sich vergegen¬
wärtigt, daß Goethe's Seele im Herbst 1771 entschieden noch mit der Vorstellung
von der Möglichkeit einer dauernden Verbindung mit Friderike erfüllt war.
Es scheint also durchaus zutreffend, wenn Lichtenberger für das eigentliche
Original der jungen Bäuerin Friderike in Anspruch nimmt, an deren Stelle
erst später in Wetzlar in Goethe's Phantasie Lotte substituirt wurde. Treffend
ist auch bei Lichtenberger die Hindeutung auf den "Laokoon", die sich in den
deutschen Erklärungen nirgends findet, wenngleich auch sie auf die Geschicklich-
keit aufmerksam macheu, mit welcher der Dichter die Schilderung eines immer
wechselnden Lokales in den Dialog verflochten habe, treffend endlich auch am
Schlüsse der Hinweis auf den tieferen Zusammenhang auch dieses Gedichtes
mit den Ideen, welche die Sturm- und Drangzeit überhaupt bewegten, ein
Zusammenhang, der ebenfalls den deutschen Erklärern entgangen ist.


schiedenen Ausgaben zu registriren und jeden einzelnen Versfuß zu bestimmen,
auch umschreibt er den Inhalt nicht in einer jener prosaischen Paraphrasen,
welche die unnachahmliche Spezialität der Diintzer'schen Kommentare bilden.
Er weiß eben, für wen er schreibt, worüber sich der deutsche Erklärer, der seine
Kommentare womöglich gleichzeitig für den „Goetheforscher" — daher die Les¬
arten — und für den Schulknaben — daher die Versfüße und die Para¬
phrasen — einrichten möchte, nie klar zu sein scheint. Aber das, was er
giebt, und die Art, wie er es giebt, verdient vielfach den Vorzug vor den
deutschen Kommentaren.

Wie anschaulich gruppirt er gleich am Anfange die Aktenstücke über die
Entstehungszeit des Gedichtes, so, daß der Widerspruch, der zwischen ihnen
herrscht, von selbst in die Augen springt! Bei Viehoff und Düntzer ist dies
nicht halb so geschickt geschehen. Mit welcher psychologischen Feinheit löst er
den Widerspruch dann auf! Viehoff nimmt an, daß Goethe das Gedicht in
Wetzlar nochmals „um- und durchgearbeitet" habe und überläßt es im Uebrigen
dem Leser, die Behauptung Goethe's, daß er das Gedicht in Wetzlar angesichts
von Lotte's zukünftigen Glück geschrieben habe, „auf das rechte Maß zurück¬
zuführen." Düntzer meint, diese Behauptung Goethe's müsse „auf einer Ver¬
wechslung beruhen"; wenn er auch das Gedicht in Wetzlar „noch einmal durch¬
genommen" haben möge, so sei es doch „unbegründet", es für eine Allegorie
auf sich und Lotte auszugeben. Lichtenberger versucht den Widerspruch in einer
Weise zu lösen, daß weder eine plumpe Verschiebung der Thatsachen noch eine
gewöhnliche Gedankenlosigkeit angenommen zu werden braucht.

Ferner sind in keinem der beiden deutschen Kommentare die ursprünglichen
Beziehungen des Gedichtes vollständig nachgewiesen. Der antiken Trümmer
von Niederbronn gedenken sie beide, aber damit ist nur die Hälfte des Gedichtes
erklärt. Die andere Hälfte wird erst verständlich, wenn man sich vergegen¬
wärtigt, daß Goethe's Seele im Herbst 1771 entschieden noch mit der Vorstellung
von der Möglichkeit einer dauernden Verbindung mit Friderike erfüllt war.
Es scheint also durchaus zutreffend, wenn Lichtenberger für das eigentliche
Original der jungen Bäuerin Friderike in Anspruch nimmt, an deren Stelle
erst später in Wetzlar in Goethe's Phantasie Lotte substituirt wurde. Treffend
ist auch bei Lichtenberger die Hindeutung auf den „Laokoon", die sich in den
deutschen Erklärungen nirgends findet, wenngleich auch sie auf die Geschicklich-
keit aufmerksam macheu, mit welcher der Dichter die Schilderung eines immer
wechselnden Lokales in den Dialog verflochten habe, treffend endlich auch am
Schlüsse der Hinweis auf den tieferen Zusammenhang auch dieses Gedichtes
mit den Ideen, welche die Sturm- und Drangzeit überhaupt bewegten, ein
Zusammenhang, der ebenfalls den deutschen Erklärern entgangen ist.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670/106>, abgerufen am 05.02.2025.