Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band.Geister verewigte: in Frankreich Rousseau, Diderot, Bernardin de Saint-Pierre, Soweit der Kommentar Lichtenberger's zu dem vorliegenden Gedichte. Die Ein Vergleich des französischen Kommentators mit den beiden deutschen Die Zitate des französischen Erklärers lassen zu wünschen übrig. Zu der vorher
erwähnten Stelle: "Warum sind die Gedichte der alten Statten" ?c,, die aus der Goethe'- schen Rezension der "Lyrischen Gedichte von Blum" stammt (Der junge Goethe II, 434), giebt er gar kein Zitat, zu der eben erwähnten ein total falsches. Wer als Deutscher beim Studium von Lichtenberger's Buch die aus Goethe übersetzten Stellen im deutschen Original nachlesen möchte und in der Goetheliteratur nicht ausnehmend bewandert ist, wird manchmal viel Zeit versuchen können, bis er das Betreffende findet. Geister verewigte: in Frankreich Rousseau, Diderot, Bernardin de Saint-Pierre, Soweit der Kommentar Lichtenberger's zu dem vorliegenden Gedichte. Die Ein Vergleich des französischen Kommentators mit den beiden deutschen Die Zitate des französischen Erklärers lassen zu wünschen übrig. Zu der vorher
erwähnten Stelle: „Warum sind die Gedichte der alten Statten" ?c,, die aus der Goethe'- schen Rezension der „Lyrischen Gedichte von Blum" stammt (Der junge Goethe II, 434), giebt er gar kein Zitat, zu der eben erwähnten ein total falsches. Wer als Deutscher beim Studium von Lichtenberger's Buch die aus Goethe übersetzten Stellen im deutschen Original nachlesen möchte und in der Goetheliteratur nicht ausnehmend bewandert ist, wird manchmal viel Zeit versuchen können, bis er das Betreffende findet. <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0105" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/140984"/> <p xml:id="ID_336" prev="#ID_335"> Geister verewigte: in Frankreich Rousseau, Diderot, Bernardin de Saint-Pierre,<lb/> Mably, Raynal; in Deutschland Möser und Basedow, Herder und Hamann,<lb/> Bürger, Lenz, Klinger, die Stolberg. Politik, Moral, Erziehung, Wissenschaften,<lb/> alles wird erschüttert, umgestaltet, erneuert. Die alten Formen bersten, die<lb/> alten Götzen werden umgestürzt, „ein unbedingtes Bestreben, alle Begränzuugen<lb/> zu durchbrechen, ist bemerkbar." Im Jahre 1772 gründet Goethe mit seinen<lb/> Freunden Merck, Schlosser, Höpfner eine Zeitschrift, in der das neue Evangelium<lb/> verkündigt und gepredigt werden soll. „Warum sind die Gedichte der alten<lb/> Statten und Celten und der alten Griechen, selbst der Morgenländer so stark,<lb/> so feurig, so groß? Die Natur trieb sie zum Singen wie den Vogel in der<lb/> Luft. Uns — wir können's uns nicht verbergen — uns treibt ein gemachtes<lb/> Gefühl, das wir der Bewunderung und dem Wohlgefallen an den Alten zu<lb/> danken haben, zu der Leyer, und darum sind unsere besten Lieder, einige wenige<lb/> ausgenommen, nur nachgeahmte Copien." Damit die Poesie wieder natürlich<lb/> und ursprünglich werde, muß der Dichter vor allen Dingen Empfindungen<lb/> haben, die werth sind besungen zu werden, er muß lieben, er muß sich in den<lb/> Strudel des Lebens stürzen. Inbrünstig sehnt Goethe diesen befreienden Genius<lb/> der deutschen Poesie herbei, dessen mächtige Flügelschläge er in sich selber spürt; an<lb/> ihn richtet er jene wunderbare, wahrhaft lyrische Apostrophe, in der die Kritik zu<lb/> prophetischem Tonesich erhebt: „Laß, o Genius unsers Vaterlandes, bald einen<lb/> Jüngling aufblühen:c." —</p><lb/> <p xml:id="ID_337"> Soweit der Kommentar Lichtenberger's zu dem vorliegenden Gedichte. Die<lb/> wunderbare, aus dem tiefsten Herzen quellende, zugleich von dem entzückenden<lb/> Bilde Lotte's durchwobene indirekte Prophezeihung Goethe's über seine eigene<lb/> zukünftige dichterische Größe, mit der die Besprechung abschließt, mag jeder<lb/> beim Dichter selber nachlesen. Sie steht in einer der von Goethe für die<lb/> „Frankfurter Gelehrten Anzeigen" während seines Wetzlarer Aufenthalts ge¬<lb/> schriebenen Kritiken (Gedichte von einem polnischen Juden. Goethe's Werke,<lb/> Hempel'sche Ausgabe, Bd. 29, S. 39, oder Der junge Goethe II, S. 440*)).</p><lb/> <p xml:id="ID_338" next="#ID_339"> Ein Vergleich des französischen Kommentators mit den beiden deutschen<lb/> Erklärern fällt, auch abgesehen von den oben besprochenen prinzipiellen Unter¬<lb/> schieden, in mehr als einer Beziehung zu Gunsten des ersteren aus. Lichten-<lb/> berger verwendet nicht ganze Seiten dazu, die abweichenden Lesarten der ver-</p><lb/> <note xml:id="FID_32" place="foot"> Die Zitate des französischen Erklärers lassen zu wünschen übrig. Zu der vorher<lb/> erwähnten Stelle: „Warum sind die Gedichte der alten Statten" ?c,, die aus der Goethe'-<lb/> schen Rezension der „Lyrischen Gedichte von Blum" stammt (Der junge Goethe II, 434),<lb/> giebt er gar kein Zitat, zu der eben erwähnten ein total falsches. Wer als Deutscher beim<lb/> Studium von Lichtenberger's Buch die aus Goethe übersetzten Stellen im deutschen Original<lb/> nachlesen möchte und in der Goetheliteratur nicht ausnehmend bewandert ist, wird manchmal<lb/> viel Zeit versuchen können, bis er das Betreffende findet.</note><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0105]
Geister verewigte: in Frankreich Rousseau, Diderot, Bernardin de Saint-Pierre,
Mably, Raynal; in Deutschland Möser und Basedow, Herder und Hamann,
Bürger, Lenz, Klinger, die Stolberg. Politik, Moral, Erziehung, Wissenschaften,
alles wird erschüttert, umgestaltet, erneuert. Die alten Formen bersten, die
alten Götzen werden umgestürzt, „ein unbedingtes Bestreben, alle Begränzuugen
zu durchbrechen, ist bemerkbar." Im Jahre 1772 gründet Goethe mit seinen
Freunden Merck, Schlosser, Höpfner eine Zeitschrift, in der das neue Evangelium
verkündigt und gepredigt werden soll. „Warum sind die Gedichte der alten
Statten und Celten und der alten Griechen, selbst der Morgenländer so stark,
so feurig, so groß? Die Natur trieb sie zum Singen wie den Vogel in der
Luft. Uns — wir können's uns nicht verbergen — uns treibt ein gemachtes
Gefühl, das wir der Bewunderung und dem Wohlgefallen an den Alten zu
danken haben, zu der Leyer, und darum sind unsere besten Lieder, einige wenige
ausgenommen, nur nachgeahmte Copien." Damit die Poesie wieder natürlich
und ursprünglich werde, muß der Dichter vor allen Dingen Empfindungen
haben, die werth sind besungen zu werden, er muß lieben, er muß sich in den
Strudel des Lebens stürzen. Inbrünstig sehnt Goethe diesen befreienden Genius
der deutschen Poesie herbei, dessen mächtige Flügelschläge er in sich selber spürt; an
ihn richtet er jene wunderbare, wahrhaft lyrische Apostrophe, in der die Kritik zu
prophetischem Tonesich erhebt: „Laß, o Genius unsers Vaterlandes, bald einen
Jüngling aufblühen:c." —
Soweit der Kommentar Lichtenberger's zu dem vorliegenden Gedichte. Die
wunderbare, aus dem tiefsten Herzen quellende, zugleich von dem entzückenden
Bilde Lotte's durchwobene indirekte Prophezeihung Goethe's über seine eigene
zukünftige dichterische Größe, mit der die Besprechung abschließt, mag jeder
beim Dichter selber nachlesen. Sie steht in einer der von Goethe für die
„Frankfurter Gelehrten Anzeigen" während seines Wetzlarer Aufenthalts ge¬
schriebenen Kritiken (Gedichte von einem polnischen Juden. Goethe's Werke,
Hempel'sche Ausgabe, Bd. 29, S. 39, oder Der junge Goethe II, S. 440*)).
Ein Vergleich des französischen Kommentators mit den beiden deutschen
Erklärern fällt, auch abgesehen von den oben besprochenen prinzipiellen Unter¬
schieden, in mehr als einer Beziehung zu Gunsten des ersteren aus. Lichten-
berger verwendet nicht ganze Seiten dazu, die abweichenden Lesarten der ver-
Die Zitate des französischen Erklärers lassen zu wünschen übrig. Zu der vorher
erwähnten Stelle: „Warum sind die Gedichte der alten Statten" ?c,, die aus der Goethe'-
schen Rezension der „Lyrischen Gedichte von Blum" stammt (Der junge Goethe II, 434),
giebt er gar kein Zitat, zu der eben erwähnten ein total falsches. Wer als Deutscher beim
Studium von Lichtenberger's Buch die aus Goethe übersetzten Stellen im deutschen Original
nachlesen möchte und in der Goetheliteratur nicht ausnehmend bewandert ist, wird manchmal
viel Zeit versuchen können, bis er das Betreffende findet.
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