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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band.

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Gegenwart, dem Leben, welches auf allen Seiten seinen Blicken sich zeigt, im
Grün der Bäume, in der Hütte, die von den Ruinen sich abhebt, in der heitern
Lebhaftigkeit des Kindes, in dem treuherzigen Geplauder und dem gastlichen
Sinn der jungen Mutter. Der Wandrer söhnt sich mit der Natur aus, er
preist ihre nie versiegende Fruchtbarkeit, ihre unablässige Thätigkeit, das Leben,
das unaufhörlich über den Tod triumphirt:


Natur! du ewig keimende,
Schaffst jeden zum Genuß des Lebens,
Hast deine Kinder alle mütterlich
Mit Erbtheil ausgestattet, einer Hütte.
Hoch baut die Schwalb' an das Gesims,
Unfühlend, welchen Ziemth
Sie verklebt;
Die Ranp' umspinnt den goldnen Zweig
Zum Winterhaus für ihre Brut;
Und du flickst zwischen der Vergangenheit
Erhabne Trümmer
Für dein Bedürfniß
Eine Hütte, o Mensch,
Genießest über Gräbern!

Seine Gedanken nehmen hier, wie man sieht, poetischen Schwung an.
Während die junge Frau sich in schlichten, schmucklosen, alltäglichen Worten
ausspricht, sucht der Wandrer seine Worte dem Grade der Erregung anzupassen,
die ihn durchdringt. Es ist kein breiter, überfließender Redeschwall, sondern
eine Reihe von Bildern, mit deutlichen Umrissen, ein gehobener Ausdruck, der
maßvoll erscheint, weil seine Kühnheit immer glücklich ist. Wir haben bisher
in Goethe's Poesie den Gesang, die Musik der Sprache*) bewundert, die, wenn
man Bettina glauben darf, Beethoven zu der Aeußerung veranlaßte, daß sie
"das Geheimniß der Harmonieen schon in sich trage"; in dem vorliegenden
Gedicht enthüllt sich zum ersten Male sein Plastisches Genie, seine Fähigkeit
den Umriß der Dinge zu erfassen, sie aus Worten und Silben herausspringen
zu lassen.

Im "Wandrer" erkennt man den Gegensatz von Natur und Bildung
wieder, den Rousseau zuerst verkündet hatte. "Natur, Natur", rief Goethe in
seiner Rede zu Ehren von England's großem dramatischen Genius aus, "nichts
so Natur, als Shakespeare's Menschen!" Natur -- das ist das Schlagwort
des neuen Geistes, der um 1770 in allen Zweigen der menschlichen Thätigkeit
wehte; es ist der Heerd, von dem die verschiedensten Ideen und Reformen
wie Funken aussprühten; es ist das Band, welches die entgegengesetztesten



*) Der Verfasser hat namentlich das Leipziger Liederbuch und die Fridcrikcnlicder aus
der Straßburger Zeit im Auge.

Gegenwart, dem Leben, welches auf allen Seiten seinen Blicken sich zeigt, im
Grün der Bäume, in der Hütte, die von den Ruinen sich abhebt, in der heitern
Lebhaftigkeit des Kindes, in dem treuherzigen Geplauder und dem gastlichen
Sinn der jungen Mutter. Der Wandrer söhnt sich mit der Natur aus, er
preist ihre nie versiegende Fruchtbarkeit, ihre unablässige Thätigkeit, das Leben,
das unaufhörlich über den Tod triumphirt:


Natur! du ewig keimende,
Schaffst jeden zum Genuß des Lebens,
Hast deine Kinder alle mütterlich
Mit Erbtheil ausgestattet, einer Hütte.
Hoch baut die Schwalb' an das Gesims,
Unfühlend, welchen Ziemth
Sie verklebt;
Die Ranp' umspinnt den goldnen Zweig
Zum Winterhaus für ihre Brut;
Und du flickst zwischen der Vergangenheit
Erhabne Trümmer
Für dein Bedürfniß
Eine Hütte, o Mensch,
Genießest über Gräbern!

Seine Gedanken nehmen hier, wie man sieht, poetischen Schwung an.
Während die junge Frau sich in schlichten, schmucklosen, alltäglichen Worten
ausspricht, sucht der Wandrer seine Worte dem Grade der Erregung anzupassen,
die ihn durchdringt. Es ist kein breiter, überfließender Redeschwall, sondern
eine Reihe von Bildern, mit deutlichen Umrissen, ein gehobener Ausdruck, der
maßvoll erscheint, weil seine Kühnheit immer glücklich ist. Wir haben bisher
in Goethe's Poesie den Gesang, die Musik der Sprache*) bewundert, die, wenn
man Bettina glauben darf, Beethoven zu der Aeußerung veranlaßte, daß sie
„das Geheimniß der Harmonieen schon in sich trage"; in dem vorliegenden
Gedicht enthüllt sich zum ersten Male sein Plastisches Genie, seine Fähigkeit
den Umriß der Dinge zu erfassen, sie aus Worten und Silben herausspringen
zu lassen.

Im „Wandrer" erkennt man den Gegensatz von Natur und Bildung
wieder, den Rousseau zuerst verkündet hatte. „Natur, Natur", rief Goethe in
seiner Rede zu Ehren von England's großem dramatischen Genius aus, „nichts
so Natur, als Shakespeare's Menschen!" Natur — das ist das Schlagwort
des neuen Geistes, der um 1770 in allen Zweigen der menschlichen Thätigkeit
wehte; es ist der Heerd, von dem die verschiedensten Ideen und Reformen
wie Funken aussprühten; es ist das Band, welches die entgegengesetztesten



*) Der Verfasser hat namentlich das Leipziger Liederbuch und die Fridcrikcnlicder aus
der Straßburger Zeit im Auge.
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[0104] Gegenwart, dem Leben, welches auf allen Seiten seinen Blicken sich zeigt, im Grün der Bäume, in der Hütte, die von den Ruinen sich abhebt, in der heitern Lebhaftigkeit des Kindes, in dem treuherzigen Geplauder und dem gastlichen Sinn der jungen Mutter. Der Wandrer söhnt sich mit der Natur aus, er preist ihre nie versiegende Fruchtbarkeit, ihre unablässige Thätigkeit, das Leben, das unaufhörlich über den Tod triumphirt: Natur! du ewig keimende, Schaffst jeden zum Genuß des Lebens, Hast deine Kinder alle mütterlich Mit Erbtheil ausgestattet, einer Hütte. Hoch baut die Schwalb' an das Gesims, Unfühlend, welchen Ziemth Sie verklebt; Die Ranp' umspinnt den goldnen Zweig Zum Winterhaus für ihre Brut; Und du flickst zwischen der Vergangenheit Erhabne Trümmer Für dein Bedürfniß Eine Hütte, o Mensch, Genießest über Gräbern! Seine Gedanken nehmen hier, wie man sieht, poetischen Schwung an. Während die junge Frau sich in schlichten, schmucklosen, alltäglichen Worten ausspricht, sucht der Wandrer seine Worte dem Grade der Erregung anzupassen, die ihn durchdringt. Es ist kein breiter, überfließender Redeschwall, sondern eine Reihe von Bildern, mit deutlichen Umrissen, ein gehobener Ausdruck, der maßvoll erscheint, weil seine Kühnheit immer glücklich ist. Wir haben bisher in Goethe's Poesie den Gesang, die Musik der Sprache*) bewundert, die, wenn man Bettina glauben darf, Beethoven zu der Aeußerung veranlaßte, daß sie „das Geheimniß der Harmonieen schon in sich trage"; in dem vorliegenden Gedicht enthüllt sich zum ersten Male sein Plastisches Genie, seine Fähigkeit den Umriß der Dinge zu erfassen, sie aus Worten und Silben herausspringen zu lassen. Im „Wandrer" erkennt man den Gegensatz von Natur und Bildung wieder, den Rousseau zuerst verkündet hatte. „Natur, Natur", rief Goethe in seiner Rede zu Ehren von England's großem dramatischen Genius aus, „nichts so Natur, als Shakespeare's Menschen!" Natur — das ist das Schlagwort des neuen Geistes, der um 1770 in allen Zweigen der menschlichen Thätigkeit wehte; es ist der Heerd, von dem die verschiedensten Ideen und Reformen wie Funken aussprühten; es ist das Band, welches die entgegengesetztesten *) Der Verfasser hat namentlich das Leipziger Liederbuch und die Fridcrikcnlicder aus der Straßburger Zeit im Auge.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670/104>, abgerufen am 05.02.2025.