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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band.

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Bruder sich kaum enthielt, auszurufen: "Moses, bist du auch da!" Seitdem
bestand bei ihm eine Art Wechselwirkung zwischen dem Roman und dem Leben.
Die Glieder der Familie Primrose entlehnten ihre Züge von der Familie
Brion und gewannen an Deutlichkeit und Schärfe; die Gestalten der Bewohner
von Sesenheim erschienen Goethe von dem poetischen Nimbus umgeben, mit
welchem Goldsmith seine Figuren zu umkleiden verstanden hatte. Er gab sich
in seiner augenblicklichen Freude keine Rechenschaft von diesem beständigen
Austausch, dieser unmerklichen Umbildung; später aber wurde er sich sehr wohl
darüber klar und zergliederte sie selbst in "Dichtung und Wahrheit". In Wetzlar
ging in seinem Innern sicher eine ähnliche Verschmelzung vor. Goethe hatte
eben den "Wandrer" gedichtet, eben das Bild jener jungen,^einfachnatürlichen,
liebenswürdigen, gastfreundlichen, glücklichen Frau in dem bescheidenen Rahmen
ihres alltäglichen Lebens gezeichnet -- da begegnet er in Lotte ihrem leib¬
haftigen Ebenbilde. Ist es nicht natürlich, daß abermals dieses Spiel der
Reflexe entstand, und daß er, als er in schonen Sommertagen, in stillem Glücke,
"Lotten ganz im Herzen", seine Verse wieder las, sich selber täuschte und aus
den Zeilen seiner Dichtung das Bildniß der Geliebten lächeln zu sehen glaubte?

Thatsächlich knüpft unsre Dichtung noch an das Elsaß und an Friderike
an. Den Rahmen und das Motiv dazu erhielt Goethe in Niederbronn, auf
einem Ausflug in die Vogesen. "In diesen von den Römern schon angelegten
Bädern -- so schreibt er in "Dichtung und Wahrheit" -- umspülte mich der
.Geist des Alterthums, dessen ehrwürdige Trümmer in Resten von Basreliefs
und Inschriften, Säulen-Knäufen und -Schäften mir aus Bauerhöfen zwischen
wirtschaftlichem Wust und Geräthe gar wundersam entgegenleuchteten."

Die Entstehungszeit, der Kontrast zwischen der unbewußten Naivetät des
Weibes und den verfeinerten Empfindungen des Wandrers, alles weist auf
die Beziehungen Goethe's zu Friederike hin. Und die Gewißheit wächst noch,
wenn wir die letzten Zeilen unsres Gedichtes mit der dritten Strophe des Liedes
"An die Erwählte" vergleichen. An beiden Stellen gedenkt der Dichter der
Hütte in der Nähe des Pappelwäldchens, die er sich zum Zufluchtsorte seines
Glückes auserkoren hat.

Auch wenn Goethe nicht ausdrücklich in "Dichtung und Wahrheit" des
Einflusses gedacht hätte, den Lessing's "Laokoon" auf ihn ausgeübt, ein auf¬
merksames Studium unsres Gedichtes würde hinreichen, ihn außer Zweifel zu
setzen. Ju der That, alle die geistvollen und tiefbegründeten Vorschriften Lessing's
über die Auflösung der Beschreibung in Handlung, über die sparsame Verwen¬
dung malerischer Einzelheiten, über die Aufeinanderfolge der Bilder in der
Dichtung, alle finden wir sie hier beobachtet, und zwar plebe mit schülerhafter,


Bruder sich kaum enthielt, auszurufen: „Moses, bist du auch da!" Seitdem
bestand bei ihm eine Art Wechselwirkung zwischen dem Roman und dem Leben.
Die Glieder der Familie Primrose entlehnten ihre Züge von der Familie
Brion und gewannen an Deutlichkeit und Schärfe; die Gestalten der Bewohner
von Sesenheim erschienen Goethe von dem poetischen Nimbus umgeben, mit
welchem Goldsmith seine Figuren zu umkleiden verstanden hatte. Er gab sich
in seiner augenblicklichen Freude keine Rechenschaft von diesem beständigen
Austausch, dieser unmerklichen Umbildung; später aber wurde er sich sehr wohl
darüber klar und zergliederte sie selbst in „Dichtung und Wahrheit". In Wetzlar
ging in seinem Innern sicher eine ähnliche Verschmelzung vor. Goethe hatte
eben den „Wandrer" gedichtet, eben das Bild jener jungen,^einfachnatürlichen,
liebenswürdigen, gastfreundlichen, glücklichen Frau in dem bescheidenen Rahmen
ihres alltäglichen Lebens gezeichnet — da begegnet er in Lotte ihrem leib¬
haftigen Ebenbilde. Ist es nicht natürlich, daß abermals dieses Spiel der
Reflexe entstand, und daß er, als er in schonen Sommertagen, in stillem Glücke,
„Lotten ganz im Herzen", seine Verse wieder las, sich selber täuschte und aus
den Zeilen seiner Dichtung das Bildniß der Geliebten lächeln zu sehen glaubte?

Thatsächlich knüpft unsre Dichtung noch an das Elsaß und an Friderike
an. Den Rahmen und das Motiv dazu erhielt Goethe in Niederbronn, auf
einem Ausflug in die Vogesen. „In diesen von den Römern schon angelegten
Bädern — so schreibt er in „Dichtung und Wahrheit" — umspülte mich der
.Geist des Alterthums, dessen ehrwürdige Trümmer in Resten von Basreliefs
und Inschriften, Säulen-Knäufen und -Schäften mir aus Bauerhöfen zwischen
wirtschaftlichem Wust und Geräthe gar wundersam entgegenleuchteten."

Die Entstehungszeit, der Kontrast zwischen der unbewußten Naivetät des
Weibes und den verfeinerten Empfindungen des Wandrers, alles weist auf
die Beziehungen Goethe's zu Friederike hin. Und die Gewißheit wächst noch,
wenn wir die letzten Zeilen unsres Gedichtes mit der dritten Strophe des Liedes
„An die Erwählte" vergleichen. An beiden Stellen gedenkt der Dichter der
Hütte in der Nähe des Pappelwäldchens, die er sich zum Zufluchtsorte seines
Glückes auserkoren hat.

Auch wenn Goethe nicht ausdrücklich in „Dichtung und Wahrheit" des
Einflusses gedacht hätte, den Lessing's „Laokoon" auf ihn ausgeübt, ein auf¬
merksames Studium unsres Gedichtes würde hinreichen, ihn außer Zweifel zu
setzen. Ju der That, alle die geistvollen und tiefbegründeten Vorschriften Lessing's
über die Auflösung der Beschreibung in Handlung, über die sparsame Verwen¬
dung malerischer Einzelheiten, über die Aufeinanderfolge der Bilder in der
Dichtung, alle finden wir sie hier beobachtet, und zwar plebe mit schülerhafter,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670/102>, abgerufen am 05.02.2025.