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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band.

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Kronos", "Prometheus" u. a. Im vierten Abschnitte sind diejenigen^ Gedichte
besprochen, die Goethe selbst unter der Ueberschrift "Kunst" zusammengestellt
hat, dazu "Hans Sachsens poetische Sendung", im fünften und sechsten die
Lieder ans Lili und Frau von Stein, im siebenten die beiden merkwürdigen
Gelegenheitsgedichte: "Auf Mieding's Tod" und "Ilmenau" nebst den Gedichten
aus "Wilhelm Meister". Dann folgen die Römischen Elegien, die Venetianischen
Epigramme nebst den Xenien und das zweite Buch der Elegien ("Alexis und
Dora", "Der neue Pausias", "Euphrosyne" u. a.) Die vier letzten Abschnitte
endlich bringen die Balladen, die Sonnette und die geselligen Lieder, den "Divan",
eine kleine Anzahl von Gedichten philosophischen Inhalts und "Letzte Gedichte".

Mit der umfänglichen deutschen Goetheliteratur ist Lichtenberger sehr wohl
vertraut. Bis herab auf die neuesten Publikationen über Friderike von Sesen-
heim und Marianne Willemer, das Urbild und zum Theil die Verfasserin der
"Suleika", hat er alles Vorhandene benutzt. Die letzte abschließende Arbeit
von Creiznach über die Willemer ist erst nach Lichtenberger's Buche erschienen.
Um von der ganzen Art seiner Behandlung, die auch sonst wesentlich von der
unsrer deutschen Kommentare abweicht, eine Vorstellung zu geben, theilen wir
im Nachfolgenden eine Probe in treuer Uebersetzung mit. Wir wühlen dazu
das unvergleichlich anmuthige, zarte und tiefsinnige Idyll, dessen Entstehung
jedenfalls noch Goethe's Straßburger Zeit angehört: "Der Wandrer". Mit
Recht, wie uns scheint, ist Lichtenberger in der Datirung dieses Gedichtes uoch
einen Schritt weiter gegangen, als Hirzel und Bernays, die es in die Frank¬
furter Zeit (Herbst 1771 -- Frühjahr 1772) setze", und hat ihm seinen Platz
am Schluß der Friderikenlieder angewiesen. Seine Besprechung beginnt mit
einer Konfrontation der auf die Entstehungszeit des Gedichtes bezüglichen
Dokumente und lautet, wie folgt:

Am 7. Mai 1831 schrieb Felix Mendelssohn aus Neapel an Zelter:
"Von dem Gedicht ,Gott segne dich, junge Frau' behaupte ich das Lokal auf¬
gefunden zu haben; ich behaupte sogar, daß ich bei der Frau zu Mittag ge¬
gessen; aber natürlich muß sie jetzt ganz alt, und ihr säugender Knabe ein
stämmiger Vignerol geworden sein, und an beiden sehlte es nicht. Zwischen
Pozzuoli und Bajä liegt ihr Haus, ,eines Tempels Trümmer' und nach Cumä
ist es ,drei Meilen gut'." Als Goethe diesen Brief zu Gesicht bekam, schrieb
er dem Freunde: "Was du nicht verrathen mußt, ist, daß jenes Gedicht ,Der
Wandrer' im Jahre 1771 geschrieben ist, also viele Jahre vor meiner italienischen
Reise. Das aber ist der Vortheil des Dichters, daß er das voraus ahnet und
werth hält, was der die Wirklichkeit suchende, wenn er es im Dasein findet
und erkennt, doppelt lieben und höchlich sich daran erfreuen muß." Wenn
aber Mendelssohn sich über die Entstehungszeit und die erste Anregung zu


Kronos", „Prometheus" u. a. Im vierten Abschnitte sind diejenigen^ Gedichte
besprochen, die Goethe selbst unter der Ueberschrift „Kunst" zusammengestellt
hat, dazu „Hans Sachsens poetische Sendung", im fünften und sechsten die
Lieder ans Lili und Frau von Stein, im siebenten die beiden merkwürdigen
Gelegenheitsgedichte: „Auf Mieding's Tod" und „Ilmenau" nebst den Gedichten
aus „Wilhelm Meister". Dann folgen die Römischen Elegien, die Venetianischen
Epigramme nebst den Xenien und das zweite Buch der Elegien („Alexis und
Dora", „Der neue Pausias", „Euphrosyne" u. a.) Die vier letzten Abschnitte
endlich bringen die Balladen, die Sonnette und die geselligen Lieder, den „Divan",
eine kleine Anzahl von Gedichten philosophischen Inhalts und „Letzte Gedichte".

Mit der umfänglichen deutschen Goetheliteratur ist Lichtenberger sehr wohl
vertraut. Bis herab auf die neuesten Publikationen über Friderike von Sesen-
heim und Marianne Willemer, das Urbild und zum Theil die Verfasserin der
„Suleika", hat er alles Vorhandene benutzt. Die letzte abschließende Arbeit
von Creiznach über die Willemer ist erst nach Lichtenberger's Buche erschienen.
Um von der ganzen Art seiner Behandlung, die auch sonst wesentlich von der
unsrer deutschen Kommentare abweicht, eine Vorstellung zu geben, theilen wir
im Nachfolgenden eine Probe in treuer Uebersetzung mit. Wir wühlen dazu
das unvergleichlich anmuthige, zarte und tiefsinnige Idyll, dessen Entstehung
jedenfalls noch Goethe's Straßburger Zeit angehört: „Der Wandrer". Mit
Recht, wie uns scheint, ist Lichtenberger in der Datirung dieses Gedichtes uoch
einen Schritt weiter gegangen, als Hirzel und Bernays, die es in die Frank¬
furter Zeit (Herbst 1771 — Frühjahr 1772) setze», und hat ihm seinen Platz
am Schluß der Friderikenlieder angewiesen. Seine Besprechung beginnt mit
einer Konfrontation der auf die Entstehungszeit des Gedichtes bezüglichen
Dokumente und lautet, wie folgt:

Am 7. Mai 1831 schrieb Felix Mendelssohn aus Neapel an Zelter:
„Von dem Gedicht ,Gott segne dich, junge Frau' behaupte ich das Lokal auf¬
gefunden zu haben; ich behaupte sogar, daß ich bei der Frau zu Mittag ge¬
gessen; aber natürlich muß sie jetzt ganz alt, und ihr säugender Knabe ein
stämmiger Vignerol geworden sein, und an beiden sehlte es nicht. Zwischen
Pozzuoli und Bajä liegt ihr Haus, ,eines Tempels Trümmer' und nach Cumä
ist es ,drei Meilen gut'." Als Goethe diesen Brief zu Gesicht bekam, schrieb
er dem Freunde: „Was du nicht verrathen mußt, ist, daß jenes Gedicht ,Der
Wandrer' im Jahre 1771 geschrieben ist, also viele Jahre vor meiner italienischen
Reise. Das aber ist der Vortheil des Dichters, daß er das voraus ahnet und
werth hält, was der die Wirklichkeit suchende, wenn er es im Dasein findet
und erkennt, doppelt lieben und höchlich sich daran erfreuen muß." Wenn
aber Mendelssohn sich über die Entstehungszeit und die erste Anregung zu


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670/100>, abgerufen am 05.02.2025.