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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band.

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daheim nicht mehr möglich ist, ihrer zu entledigen suchen. Wir sind, so sagen
uns die Sozicildemokraten ja selbst, erst in den Anfängen der großen Bewegung,
der Umsturz muß kommen, gleichviel so oder so, friedlich oder mit Gewalt.
Uns zwingt man daher die Nothwehr auf und Stciateu wie Gemeinden werden
über kurz oder lang dazu greifen müssen, sich Leute vom Halse zu schaffen,
welche sür sie eine geradeso drückende Last werden, wie unverbesserliche Land¬
streicher, Diebe und andere Plagen der Gesellschaft. Wie gern würde man
oft das Doppelte des Ueberfahrtspreises bezahlen, um der beständig durch sie
verursachten Sorge überhoben zu sein! Der Staat, welcher Ruhe als die erste
Bürgerpflicht betrachtet, gewinnt entschieden dadurch, daß die unruhigen Geister,
welche zu Hanse nicht gut thun, außer Landes gehen; denn erfahrungsgemäß
erwachsen aus diesen später nicht nur brauchbare Glieder sür die menschliche
Gesellschaft überhaupt, sondern auch oft höchst nützliche Staatsbürger für das
Heimatland, welches sie erst in dessen Kolonien schätzen und würdigen lernen.

Ein System, ähnlich wie es bei den Deportirten Australiens in Anwendung
kam und vortreffliche Frucht zeitigte, erscheint uns als das geeignetste, wenn
einmal die Frage an das deutsche Reich Herautritt sich seiner mißrathenen
Söhne zu entledigen. Freilich dürfen die Deportativnsorte nicht wie jene
Frankreichs, Portugals, Spaniens bloße Naturkerker sein, welche nur aus
Bequemlichkeitsgründen oder aus Sicherheitsrücksichten an die Stelle einheimischer
Gefängnisse treten, sondern es müßte die landwirtschaftliche und die industrielle
Entfaltung der Kolonie mit der sittlichen und geistigen Hebung Hand in Hand
gehen und nach dem Grundsatze gewirkt werden: daß es keineswegs ein dem
Menschen innewohnender, natürlicher Hang zum Bösen, sondern daß es zumeist
die Macht der Verhältnisse, Verführung, die Mangelhaftigkeit unserer sozialen
Einrichtungen ist, welche ihn zum Uebelthäter und Sozialisten stempelt, und
daß, sobald er sich in eine andere Lebenssphäre versetzt sieht, sich ihm Gelegen¬
heit bietet durch freie unbehinderte Bewegung aller physischen und geistigen
.Kräfte rechtschaffen seinen Lebensunterhalt zu gewinnen.

Die heutigen Zustände der Kolonie von Neu-Südwales in Australien,
welche durch beinahe ein halbes Jahrhundert ihre Ansiedler aus Strafanstalten
rekrutirte, liefern das herrliche, weltgeschichtliche Beispiel, was aus einer ver¬
derbten Menschenmenge unter günstigen Umständen durch eine verstündige
Leitung und Benutzung ihrer Kräfte werden kann.*) Zwischen Kerkermauern,
in einsame Zellen gesperrt, würden die nach Botany-Bai transportirten Ver¬
brecher dem Staate und der Gesellschaft ohne irgend einen Ersatz ungeheure



^) Vergl. K> v. Scherzer, statistisch-kommerzielle Ergebnisse einer Reise um die Erde.
Leipzig, 1367.

daheim nicht mehr möglich ist, ihrer zu entledigen suchen. Wir sind, so sagen
uns die Sozicildemokraten ja selbst, erst in den Anfängen der großen Bewegung,
der Umsturz muß kommen, gleichviel so oder so, friedlich oder mit Gewalt.
Uns zwingt man daher die Nothwehr auf und Stciateu wie Gemeinden werden
über kurz oder lang dazu greifen müssen, sich Leute vom Halse zu schaffen,
welche sür sie eine geradeso drückende Last werden, wie unverbesserliche Land¬
streicher, Diebe und andere Plagen der Gesellschaft. Wie gern würde man
oft das Doppelte des Ueberfahrtspreises bezahlen, um der beständig durch sie
verursachten Sorge überhoben zu sein! Der Staat, welcher Ruhe als die erste
Bürgerpflicht betrachtet, gewinnt entschieden dadurch, daß die unruhigen Geister,
welche zu Hanse nicht gut thun, außer Landes gehen; denn erfahrungsgemäß
erwachsen aus diesen später nicht nur brauchbare Glieder sür die menschliche
Gesellschaft überhaupt, sondern auch oft höchst nützliche Staatsbürger für das
Heimatland, welches sie erst in dessen Kolonien schätzen und würdigen lernen.

Ein System, ähnlich wie es bei den Deportirten Australiens in Anwendung
kam und vortreffliche Frucht zeitigte, erscheint uns als das geeignetste, wenn
einmal die Frage an das deutsche Reich Herautritt sich seiner mißrathenen
Söhne zu entledigen. Freilich dürfen die Deportativnsorte nicht wie jene
Frankreichs, Portugals, Spaniens bloße Naturkerker sein, welche nur aus
Bequemlichkeitsgründen oder aus Sicherheitsrücksichten an die Stelle einheimischer
Gefängnisse treten, sondern es müßte die landwirtschaftliche und die industrielle
Entfaltung der Kolonie mit der sittlichen und geistigen Hebung Hand in Hand
gehen und nach dem Grundsatze gewirkt werden: daß es keineswegs ein dem
Menschen innewohnender, natürlicher Hang zum Bösen, sondern daß es zumeist
die Macht der Verhältnisse, Verführung, die Mangelhaftigkeit unserer sozialen
Einrichtungen ist, welche ihn zum Uebelthäter und Sozialisten stempelt, und
daß, sobald er sich in eine andere Lebenssphäre versetzt sieht, sich ihm Gelegen¬
heit bietet durch freie unbehinderte Bewegung aller physischen und geistigen
.Kräfte rechtschaffen seinen Lebensunterhalt zu gewinnen.

Die heutigen Zustände der Kolonie von Neu-Südwales in Australien,
welche durch beinahe ein halbes Jahrhundert ihre Ansiedler aus Strafanstalten
rekrutirte, liefern das herrliche, weltgeschichtliche Beispiel, was aus einer ver¬
derbten Menschenmenge unter günstigen Umständen durch eine verstündige
Leitung und Benutzung ihrer Kräfte werden kann.*) Zwischen Kerkermauern,
in einsame Zellen gesperrt, würden die nach Botany-Bai transportirten Ver¬
brecher dem Staate und der Gesellschaft ohne irgend einen Ersatz ungeheure



^) Vergl. K> v. Scherzer, statistisch-kommerzielle Ergebnisse einer Reise um die Erde.
Leipzig, 1367.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157661/54>, abgerufen am 22.07.2024.