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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band.

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momentan in's Stocken gerathen ist, sehr bald sich aber wieder heben dürfte.
Sie führt alljährlich sehr beträchtliche Summen an Geld sowie an körperlicher
und geistiger Kraft dem Auslande zu und bringt uns auf diese Weise Verluste.
Selten nur kehrt ein Ausgewanderter mit dem in der Fremde vermehrten
Vermögen in die alte Heimat zurück. Die natürliche Neigung des germanischen
Stammes zum Wandern, die Uebervölkerung und die sozialen Verhältnisse sind
die Gründe, weshalb kein Volk, von den Jrländern abgesehen, mehr Auswanderer
stellt als das deutsche. Während 1820 bis 1830 nicht mehr als 7729 deutsche
Einwanderer in den Vereinigten Staaten eintrafen, stieg von 1831 bis 1840
die Ziffer auf 152,454, vou 1841 bis 1850 auf 434,621 und von 1851 bis
1860 sogar auf 951,667. Die höchste Ziffer der aus Deutschland in den
Vereinigten Staaten Eingewanderte, betrug im Jahre 1854: 251,931, was im
Zusammenhange mit der politischen Unzufriedenheit jener Periode steht, wie
denn überhaupt in den Zeiten politischer Mißstimmung die Auswanderung
wesentlich zunimmt und wir auch für die nächste Zukunft einen Aufschwung
der Auswanderung vorhersage" möchten. Jetzt aber liegt die Auswanderung
über Hamburg und Bremen ganz darnieder.

Bei uns giebt es auch tausende von Leuten, und zwar höchst befähigte,
geschickte und achtungswerthe Leute, welche in den engen von unserer Gesittung
gesteckten Schranken sich nicht wohl fühlen, weil sie nicht den richtigen Wirkungs¬
kreis, nicht Spielraum für ihre Kräfte finden, und die nun den Sozialisten sich
in die Arme werfen, bei denen auch schon ein kleines Talent eine sehr große
Rolle spielen kann. Außerdem giebt es, um mit Friedel zu sprechen, viele,
welche durch eine unbedachte Handlung gezwungen werden, die Heimat zu
verlassen und sich jenseits des Weltmeeres eine Heimat zu suchen, in welcher
sie von neuem beginnen und sich im Schweiße ihres Angesichts eine ehrenvolle
Stellung erringen können. Alle diese gehen bei unseren jetzigen Verhältnissen
mit wenigen Ausnahmen zu Grunde; entweder sie verkümmern auf ungeeigneten
Boden im Vaterlande, oder sie werfen sich verzweiflungsvoll dem Auslande in
die Arme und finden dort ein Ende. Für solche Schiffbrüchige würde schon
eine kleine deutsche Kolonie ein Rettungshafen sein.

Vor allen Dingen aber würde uns ein Stück überseeisches Land von
Nutzen sein, um diejenigen unterzubringen, welche sich außerhalb der heutigen
gesellschaftlichen Ordnung stellen und für die der Name "Vaterland" nur ein
hohler Klang ist. Wenn sie blos nach "menschenwürdigen" Dasein ringen,
die Liebe zur Heimat nicht kennen, wenn sie den Umsturz aller Sitte und
Ordnung mehr oder minder offen predigen und in ihren ganzen Bestrebungen
Verbrecher gegen natürliche Gesetze sind, dann haben wir auch keinerlei zarte
Rücksichten mehr auf sie zu nehmen und müssen uns, wenn ein Heilungsprozeß


momentan in's Stocken gerathen ist, sehr bald sich aber wieder heben dürfte.
Sie führt alljährlich sehr beträchtliche Summen an Geld sowie an körperlicher
und geistiger Kraft dem Auslande zu und bringt uns auf diese Weise Verluste.
Selten nur kehrt ein Ausgewanderter mit dem in der Fremde vermehrten
Vermögen in die alte Heimat zurück. Die natürliche Neigung des germanischen
Stammes zum Wandern, die Uebervölkerung und die sozialen Verhältnisse sind
die Gründe, weshalb kein Volk, von den Jrländern abgesehen, mehr Auswanderer
stellt als das deutsche. Während 1820 bis 1830 nicht mehr als 7729 deutsche
Einwanderer in den Vereinigten Staaten eintrafen, stieg von 1831 bis 1840
die Ziffer auf 152,454, vou 1841 bis 1850 auf 434,621 und von 1851 bis
1860 sogar auf 951,667. Die höchste Ziffer der aus Deutschland in den
Vereinigten Staaten Eingewanderte, betrug im Jahre 1854: 251,931, was im
Zusammenhange mit der politischen Unzufriedenheit jener Periode steht, wie
denn überhaupt in den Zeiten politischer Mißstimmung die Auswanderung
wesentlich zunimmt und wir auch für die nächste Zukunft einen Aufschwung
der Auswanderung vorhersage« möchten. Jetzt aber liegt die Auswanderung
über Hamburg und Bremen ganz darnieder.

Bei uns giebt es auch tausende von Leuten, und zwar höchst befähigte,
geschickte und achtungswerthe Leute, welche in den engen von unserer Gesittung
gesteckten Schranken sich nicht wohl fühlen, weil sie nicht den richtigen Wirkungs¬
kreis, nicht Spielraum für ihre Kräfte finden, und die nun den Sozialisten sich
in die Arme werfen, bei denen auch schon ein kleines Talent eine sehr große
Rolle spielen kann. Außerdem giebt es, um mit Friedel zu sprechen, viele,
welche durch eine unbedachte Handlung gezwungen werden, die Heimat zu
verlassen und sich jenseits des Weltmeeres eine Heimat zu suchen, in welcher
sie von neuem beginnen und sich im Schweiße ihres Angesichts eine ehrenvolle
Stellung erringen können. Alle diese gehen bei unseren jetzigen Verhältnissen
mit wenigen Ausnahmen zu Grunde; entweder sie verkümmern auf ungeeigneten
Boden im Vaterlande, oder sie werfen sich verzweiflungsvoll dem Auslande in
die Arme und finden dort ein Ende. Für solche Schiffbrüchige würde schon
eine kleine deutsche Kolonie ein Rettungshafen sein.

Vor allen Dingen aber würde uns ein Stück überseeisches Land von
Nutzen sein, um diejenigen unterzubringen, welche sich außerhalb der heutigen
gesellschaftlichen Ordnung stellen und für die der Name „Vaterland" nur ein
hohler Klang ist. Wenn sie blos nach „menschenwürdigen" Dasein ringen,
die Liebe zur Heimat nicht kennen, wenn sie den Umsturz aller Sitte und
Ordnung mehr oder minder offen predigen und in ihren ganzen Bestrebungen
Verbrecher gegen natürliche Gesetze sind, dann haben wir auch keinerlei zarte
Rücksichten mehr auf sie zu nehmen und müssen uns, wenn ein Heilungsprozeß


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157661/53>, abgerufen am 22.07.2024.