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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band.

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turnier, obgleich die "Vossische Zeitung" so unhöflich war, diesen "geistigen"
Kampf eine unverantwortliche "Demagogie" zu nennen.

Wunderbar bleibt es nur bei alledem, daß die Fortschrittspartei trotz aller
dieser Anstrengungen immer schwächer und die Sozialdemokratie immer stärker
wurde. Allein dies Räthsel ist gar kein Räthsel, wenn man die fortschrittlichen
Blätter hört; nach ihnen hat die preußische Regierung und speziell Fürst
Bismarck die Agitation von Lassalle und damit die deutsche Sozialdemokratie
großgezogen, um Eugen Richter und Max Hirsch vernichten zu können. Liest
man solche Behauptungen, dann wird man recht traurig gestimmt, denn was
soll ,nan von aller Geschichtschreibung halten, wenn sich in unserer papiernen
Zeit über ein Stück Geschichte, das wir alle mit erlebt haben, eine so dreiste
t-M<z eonvMno ungestraft breitmachen darf? Die Akten aus Lassalle's Agi¬
tationsarchiv sind seit langen Jahren durch Bernhard Becker veröffentlicht,
ebenso sind vier oder fünf seiner vertrautesten Briefwechsel aus dieser Zeit ge¬
druckt worden und wer einmal anch nur einen flüchtigsten Blick in dies Material
thun will, der findet allerdings fast auf jeder Seite Beziehungen zwischen
Lassalle und der preußischen Regierung, aber wie man zu sagen pflegt, sie sind
auch darnach. Die Polizei, unzweifelhaft ein Organ der Regierung, tribulirte
Lassalle und seine Anhänger durch Haussuchungen und Verhaftungen, durch
Konfiskation von Broschüren und Stammlisten, durch Auflösung seiner Ver¬
sammlungen, so weit dieselben nicht schon durch die Fortschrittspartei in "gei¬
stigem" Kampfe gesprengt waren; die Staatsanwaltschaften, gleichfalls unzwei¬
felhafte Organe der Regierung, verfolgten Lassalle von Königsberg bis Düssel¬
dorf mit den schwersten Anklagen, auf deren einer sogar langjähriges Zucht¬
haus stand, hingen ihm einen Kriminalprozeß nach dem andern an, so daß er
nur durch seinen unerwarteten Tod vor den langwierigsten Gefängnißstrafen
bewahrt wurde. Aehnlich ging es seinem Nachfolger Schweitzer, der alljähr¬
lich mehrere Monate im Cachot trauerte, vermuthlich damit die Regierung in
diesen Zeiten unfreiwilliger Enthaltsamkeit an seinen Bestechungsgeldern sparen
könnte. Zur Begründung dieser ganzen Verdächtigungen wissen die fortschritt¬
lichen Blätter nur eine Thatsache oder richtiger nur den Schatten einer That¬
sache anzuführen, die zwar nichts beweist, aber doch wenigstens mehr, wie eine
"reingeistige" Redewendung ist und deshalb schon erwähnt werden muß:
nämlich die Audienz, welche der damalige Ministerpräsident einer Deputation
von schlesischen Webern beim Könige verschaffte, die sich über ihre drückende
Nothlage und ihren Arbeitgeber, den fortschrittlichen Abgeordneten Reichenheim,
beschweren wollten und die aus der königlichen Schatulle einen Beitrag zur
Gründung einer Erwerbsgenossenschaft erhielten. Dieser falsche-Schachzug läßt
sich sachlich kaum rechtfertigen, allein er läßt sich erklären dnrch die unerquick-


Grenzboten III. 1373. 69

turnier, obgleich die „Vossische Zeitung" so unhöflich war, diesen „geistigen"
Kampf eine unverantwortliche „Demagogie" zu nennen.

Wunderbar bleibt es nur bei alledem, daß die Fortschrittspartei trotz aller
dieser Anstrengungen immer schwächer und die Sozialdemokratie immer stärker
wurde. Allein dies Räthsel ist gar kein Räthsel, wenn man die fortschrittlichen
Blätter hört; nach ihnen hat die preußische Regierung und speziell Fürst
Bismarck die Agitation von Lassalle und damit die deutsche Sozialdemokratie
großgezogen, um Eugen Richter und Max Hirsch vernichten zu können. Liest
man solche Behauptungen, dann wird man recht traurig gestimmt, denn was
soll ,nan von aller Geschichtschreibung halten, wenn sich in unserer papiernen
Zeit über ein Stück Geschichte, das wir alle mit erlebt haben, eine so dreiste
t-M<z eonvMno ungestraft breitmachen darf? Die Akten aus Lassalle's Agi¬
tationsarchiv sind seit langen Jahren durch Bernhard Becker veröffentlicht,
ebenso sind vier oder fünf seiner vertrautesten Briefwechsel aus dieser Zeit ge¬
druckt worden und wer einmal anch nur einen flüchtigsten Blick in dies Material
thun will, der findet allerdings fast auf jeder Seite Beziehungen zwischen
Lassalle und der preußischen Regierung, aber wie man zu sagen pflegt, sie sind
auch darnach. Die Polizei, unzweifelhaft ein Organ der Regierung, tribulirte
Lassalle und seine Anhänger durch Haussuchungen und Verhaftungen, durch
Konfiskation von Broschüren und Stammlisten, durch Auflösung seiner Ver¬
sammlungen, so weit dieselben nicht schon durch die Fortschrittspartei in „gei¬
stigem" Kampfe gesprengt waren; die Staatsanwaltschaften, gleichfalls unzwei¬
felhafte Organe der Regierung, verfolgten Lassalle von Königsberg bis Düssel¬
dorf mit den schwersten Anklagen, auf deren einer sogar langjähriges Zucht¬
haus stand, hingen ihm einen Kriminalprozeß nach dem andern an, so daß er
nur durch seinen unerwarteten Tod vor den langwierigsten Gefängnißstrafen
bewahrt wurde. Aehnlich ging es seinem Nachfolger Schweitzer, der alljähr¬
lich mehrere Monate im Cachot trauerte, vermuthlich damit die Regierung in
diesen Zeiten unfreiwilliger Enthaltsamkeit an seinen Bestechungsgeldern sparen
könnte. Zur Begründung dieser ganzen Verdächtigungen wissen die fortschritt¬
lichen Blätter nur eine Thatsache oder richtiger nur den Schatten einer That¬
sache anzuführen, die zwar nichts beweist, aber doch wenigstens mehr, wie eine
„reingeistige" Redewendung ist und deshalb schon erwähnt werden muß:
nämlich die Audienz, welche der damalige Ministerpräsident einer Deputation
von schlesischen Webern beim Könige verschaffte, die sich über ihre drückende
Nothlage und ihren Arbeitgeber, den fortschrittlichen Abgeordneten Reichenheim,
beschweren wollten und die aus der königlichen Schatulle einen Beitrag zur
Gründung einer Erwerbsgenossenschaft erhielten. Dieser falsche-Schachzug läßt
sich sachlich kaum rechtfertigen, allein er läßt sich erklären dnrch die unerquick-


Grenzboten III. 1373. 69
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[0473] turnier, obgleich die „Vossische Zeitung" so unhöflich war, diesen „geistigen" Kampf eine unverantwortliche „Demagogie" zu nennen. Wunderbar bleibt es nur bei alledem, daß die Fortschrittspartei trotz aller dieser Anstrengungen immer schwächer und die Sozialdemokratie immer stärker wurde. Allein dies Räthsel ist gar kein Räthsel, wenn man die fortschrittlichen Blätter hört; nach ihnen hat die preußische Regierung und speziell Fürst Bismarck die Agitation von Lassalle und damit die deutsche Sozialdemokratie großgezogen, um Eugen Richter und Max Hirsch vernichten zu können. Liest man solche Behauptungen, dann wird man recht traurig gestimmt, denn was soll ,nan von aller Geschichtschreibung halten, wenn sich in unserer papiernen Zeit über ein Stück Geschichte, das wir alle mit erlebt haben, eine so dreiste t-M<z eonvMno ungestraft breitmachen darf? Die Akten aus Lassalle's Agi¬ tationsarchiv sind seit langen Jahren durch Bernhard Becker veröffentlicht, ebenso sind vier oder fünf seiner vertrautesten Briefwechsel aus dieser Zeit ge¬ druckt worden und wer einmal anch nur einen flüchtigsten Blick in dies Material thun will, der findet allerdings fast auf jeder Seite Beziehungen zwischen Lassalle und der preußischen Regierung, aber wie man zu sagen pflegt, sie sind auch darnach. Die Polizei, unzweifelhaft ein Organ der Regierung, tribulirte Lassalle und seine Anhänger durch Haussuchungen und Verhaftungen, durch Konfiskation von Broschüren und Stammlisten, durch Auflösung seiner Ver¬ sammlungen, so weit dieselben nicht schon durch die Fortschrittspartei in „gei¬ stigem" Kampfe gesprengt waren; die Staatsanwaltschaften, gleichfalls unzwei¬ felhafte Organe der Regierung, verfolgten Lassalle von Königsberg bis Düssel¬ dorf mit den schwersten Anklagen, auf deren einer sogar langjähriges Zucht¬ haus stand, hingen ihm einen Kriminalprozeß nach dem andern an, so daß er nur durch seinen unerwarteten Tod vor den langwierigsten Gefängnißstrafen bewahrt wurde. Aehnlich ging es seinem Nachfolger Schweitzer, der alljähr¬ lich mehrere Monate im Cachot trauerte, vermuthlich damit die Regierung in diesen Zeiten unfreiwilliger Enthaltsamkeit an seinen Bestechungsgeldern sparen könnte. Zur Begründung dieser ganzen Verdächtigungen wissen die fortschritt¬ lichen Blätter nur eine Thatsache oder richtiger nur den Schatten einer That¬ sache anzuführen, die zwar nichts beweist, aber doch wenigstens mehr, wie eine „reingeistige" Redewendung ist und deshalb schon erwähnt werden muß: nämlich die Audienz, welche der damalige Ministerpräsident einer Deputation von schlesischen Webern beim Könige verschaffte, die sich über ihre drückende Nothlage und ihren Arbeitgeber, den fortschrittlichen Abgeordneten Reichenheim, beschweren wollten und die aus der königlichen Schatulle einen Beitrag zur Gründung einer Erwerbsgenossenschaft erhielten. Dieser falsche-Schachzug läßt sich sachlich kaum rechtfertigen, allein er läßt sich erklären dnrch die unerquick- Grenzboten III. 1373. 69

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157661/473>, abgerufen am 25.08.2024.