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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band.

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das Vorjahr zugenommen hat, allein der große Stamm ihrer Anhänger ist
doch treu geblieben und, indem er den wilden Sturm dnrchwetterte, der über
die Partei hinfuhr, gewiß eher härter als weicher geworden. Wir müssen uns
mit dem Gedanken vertraut machen, daß ein tiefer Riß mitten durch unser
Volk geht, daß ein erheblicher, schon hoch in die Hunderttausende laufender
Theil unserer Mitbürger ans der Gemeinschaft des nationalen Bewußtseins
losgelöst ist und allmählich, aber sicher einer Entsittlichung oder Verwilderung
entgegentreibt, deren erste Schmntzwellen wir schon gegen die Fundamente von
Gesellschaft und Staat haben anbranden sehen.

Einen solchen Zustand kann kein Volk dauernd ertragen. Er deutet auf
tiefe Schäden im nationalen Organismus, an deren Heilung nicht früh genug
Hand gelegt werdeu kann. Denn darüber ist ja kein Zweifel möglich, daß die
böse Saat niemals so üppig hätte in die Halme schießen können, wenn sie
nicht auf einen fruchtbaren Boden gefallen wäre. Erst die Noth- und Uebel¬
stände, unter deuen unsere arbeitenden Klassen litten und leiden, öffneten ihre
Ohren für die Stimme des Versuchers. Eine soziale Reform, deren Aufgaben
sich mannigfach verzweigen, ist der einzige Ausweg ans dem Jrrsal, das einzige
Heilmittel der Krankheit. Hierüber ist nirgends ein Zweifel; hierzu sind alle
staatserhaltenden Elemente entschlossen. Nur ist für jede ernsthafte Reform das
einsichtige Verständniß, die rege Theilnahme der Arbeiter selbst nothwendig;
auf ihrer Energie und Initiative wird immer der beste Theil des Gelingens
basiren. Es fragt sich, wie die irregeleiteten Massen wieder zu gewinnen sind,
wie das babylonische Sprachgewirr zu beseitigen ist, in welchem die Söhne
desselben Volks sich nicht mehr verstehen. Nach Allein, was in diesen Zeilen
über Art und Grad der Gefahr auszuführen versucht wurde, ist die Antwort
einfach: der Weg zu dem hohen Kulturziele der inneren Versöhnung ans Grund
einer soziale" Reformgesetzgebung geht nnr über die Trümmer jenes demago¬
gischen Apparats, der polypengleich den deutschen Volkskörper umklammert, mit
tausend Saugnäpfen an seinen edelsten Organen zehrt und seine gierigen Fänge
täglich weiter streckt. Ein Pallirer mit dieser Demagogie ist unmöglich; sie
hat noch jedes Wort des Friedens und der Versöhnung mit frechem Hohn¬
lachen zurückgewiesen; von ihr gilt tausendmal mehr, wie von ihren Gegen-
füßlern, daß sie ist, wie sie ist oder nicht ist; sie kann nicht gebogen, sondern
sie muß gebrochen werden.

(Schluß folgt.)


Franz Mehring.


das Vorjahr zugenommen hat, allein der große Stamm ihrer Anhänger ist
doch treu geblieben und, indem er den wilden Sturm dnrchwetterte, der über
die Partei hinfuhr, gewiß eher härter als weicher geworden. Wir müssen uns
mit dem Gedanken vertraut machen, daß ein tiefer Riß mitten durch unser
Volk geht, daß ein erheblicher, schon hoch in die Hunderttausende laufender
Theil unserer Mitbürger ans der Gemeinschaft des nationalen Bewußtseins
losgelöst ist und allmählich, aber sicher einer Entsittlichung oder Verwilderung
entgegentreibt, deren erste Schmntzwellen wir schon gegen die Fundamente von
Gesellschaft und Staat haben anbranden sehen.

Einen solchen Zustand kann kein Volk dauernd ertragen. Er deutet auf
tiefe Schäden im nationalen Organismus, an deren Heilung nicht früh genug
Hand gelegt werdeu kann. Denn darüber ist ja kein Zweifel möglich, daß die
böse Saat niemals so üppig hätte in die Halme schießen können, wenn sie
nicht auf einen fruchtbaren Boden gefallen wäre. Erst die Noth- und Uebel¬
stände, unter deuen unsere arbeitenden Klassen litten und leiden, öffneten ihre
Ohren für die Stimme des Versuchers. Eine soziale Reform, deren Aufgaben
sich mannigfach verzweigen, ist der einzige Ausweg ans dem Jrrsal, das einzige
Heilmittel der Krankheit. Hierüber ist nirgends ein Zweifel; hierzu sind alle
staatserhaltenden Elemente entschlossen. Nur ist für jede ernsthafte Reform das
einsichtige Verständniß, die rege Theilnahme der Arbeiter selbst nothwendig;
auf ihrer Energie und Initiative wird immer der beste Theil des Gelingens
basiren. Es fragt sich, wie die irregeleiteten Massen wieder zu gewinnen sind,
wie das babylonische Sprachgewirr zu beseitigen ist, in welchem die Söhne
desselben Volks sich nicht mehr verstehen. Nach Allein, was in diesen Zeilen
über Art und Grad der Gefahr auszuführen versucht wurde, ist die Antwort
einfach: der Weg zu dem hohen Kulturziele der inneren Versöhnung ans Grund
einer soziale» Reformgesetzgebung geht nnr über die Trümmer jenes demago¬
gischen Apparats, der polypengleich den deutschen Volkskörper umklammert, mit
tausend Saugnäpfen an seinen edelsten Organen zehrt und seine gierigen Fänge
täglich weiter streckt. Ein Pallirer mit dieser Demagogie ist unmöglich; sie
hat noch jedes Wort des Friedens und der Versöhnung mit frechem Hohn¬
lachen zurückgewiesen; von ihr gilt tausendmal mehr, wie von ihren Gegen-
füßlern, daß sie ist, wie sie ist oder nicht ist; sie kann nicht gebogen, sondern
sie muß gebrochen werden.

(Schluß folgt.)


Franz Mehring.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157661/444>, abgerufen am 22.07.2024.