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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band.

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je von servilen Höflingen gegenüber despotischen Herrschern geleistet worden
ist. Auch hier ist ein ungeheuerlicher Fortschritt über Lassalle hinaus zu er¬
kennen. Lassalle sah anch in dem Arbeiterstande den Träger der Zukunft, aber
eben nur in der Idee, in dem Prinzipe des Standes, nicht in seinen einzelnen
Individuen, von denen er vielmehr behauptete, daß jede soziale Reform uicht
der Mühe werth wäre, wenn sie blieben, was sie augenblicklich seien. Umge¬
kehrt wird jetzt, obgleich die arbeitenden Klassen seit Jahrhunderten geflissentlich
in Unwissenheit und Versimpelung erhalten worden sein, obgleich sie fort und
fort mit allen Mitteln eines gewissenlosen Despotismus in den Schulen ver¬
dummt werden sollen, jeder einzelne Arbeiter an und für sich als der bravste,
edelste, tüchtigste, weiseste Mensch gepriesen, fähig, ans sich selbst heraus alle
schwierigsten Probleme der Politik und Wissenschaft mit unfehlbarer Sicherheit
zu entscheiden. So wird in den untern Schichten des Volks ein Selbstgefühl
gezüchtet, das ihr ganzes Denken und Empfinden grenzenlos überwuchert; ein
Größenwahn greift um sich, wie er als nationale Krankheit noch niemals in
den Annalen der Weltgeschichte verzeichnet worden ist.

Es liegt auf der Hand, daß die Wirkungen einer derartigen Agitation,
die, wie schlau immer ihr letzter Hintergedanke sei, doch mit so plumpen Mitteln
arbeiten muß, sich nicht von heute auf morgen äußern können. Dazu ist unser
Volk zu ehrlich, zu nüchtern, zu verständig. Die unbehaglichen Wirren der
gewaltigen Uebergangsepoche, in welcher wir auf politischem, religiösem, wirth-
schaftlichem Gebiete leben, bieten fast unerschöpfliche Quellen der Unzufrieden¬
heit, und nur zu leicht horchen die Armen im Geiste auf die dreisten Ver¬
sprechungen der neuen Propheten. Aber thatsächlich lösen sie sich doch nur
langsam von dem Boden, der sie zeugte und nährt, von den Erinnerungen,
die ihnen von Kindesbeinen an heilig und theuer waren, von den Gewohnheiten
der ehrbaren Sitte und Zucht, welche ihr kleines Dasein hegten und schirmten.
Nicht nnr der deutsche Arbeiterstand, sondern auch die große Mehrheit der
sozialdemokratischen Anhängerschaft, wie zähe sie unter dem dauernden Drucke
einer schweren Zeit an ihren verkehrten Hoffnungen hängen mag, ist noch
wesentlich frei von der moralischen Zersetzung durch jene Demagogie. Allein
andererseits darf man nicht übersehen, daß der Tropfen anfängt den Stein zu
höhlen, daß die Gefahr mit entsetzlicher Schnelligkeit um sich greift, daß auf
unsern Märkten und Gassen schon massenhaft jene hohlen, leeren, nichtigen
Gestalten wimmeln, die glücklich alle Fesseln moderner Bildung und Gesittung
abgestreift haben, die an Himmel und Erde nur noch dnrch das wahnsinnige
Bewußtsein geknüpft sind, die Träger einer ungeheuren Zukunft zu sein, Wohl
und Wehe der Menschen in ihrem verbrannten Hirne zu wälzen. Sie verbreiten
eine eigenartig krankhafte Atmosphäre um sich, die alle haltlosen und schwachen


je von servilen Höflingen gegenüber despotischen Herrschern geleistet worden
ist. Auch hier ist ein ungeheuerlicher Fortschritt über Lassalle hinaus zu er¬
kennen. Lassalle sah anch in dem Arbeiterstande den Träger der Zukunft, aber
eben nur in der Idee, in dem Prinzipe des Standes, nicht in seinen einzelnen
Individuen, von denen er vielmehr behauptete, daß jede soziale Reform uicht
der Mühe werth wäre, wenn sie blieben, was sie augenblicklich seien. Umge¬
kehrt wird jetzt, obgleich die arbeitenden Klassen seit Jahrhunderten geflissentlich
in Unwissenheit und Versimpelung erhalten worden sein, obgleich sie fort und
fort mit allen Mitteln eines gewissenlosen Despotismus in den Schulen ver¬
dummt werden sollen, jeder einzelne Arbeiter an und für sich als der bravste,
edelste, tüchtigste, weiseste Mensch gepriesen, fähig, ans sich selbst heraus alle
schwierigsten Probleme der Politik und Wissenschaft mit unfehlbarer Sicherheit
zu entscheiden. So wird in den untern Schichten des Volks ein Selbstgefühl
gezüchtet, das ihr ganzes Denken und Empfinden grenzenlos überwuchert; ein
Größenwahn greift um sich, wie er als nationale Krankheit noch niemals in
den Annalen der Weltgeschichte verzeichnet worden ist.

Es liegt auf der Hand, daß die Wirkungen einer derartigen Agitation,
die, wie schlau immer ihr letzter Hintergedanke sei, doch mit so plumpen Mitteln
arbeiten muß, sich nicht von heute auf morgen äußern können. Dazu ist unser
Volk zu ehrlich, zu nüchtern, zu verständig. Die unbehaglichen Wirren der
gewaltigen Uebergangsepoche, in welcher wir auf politischem, religiösem, wirth-
schaftlichem Gebiete leben, bieten fast unerschöpfliche Quellen der Unzufrieden¬
heit, und nur zu leicht horchen die Armen im Geiste auf die dreisten Ver¬
sprechungen der neuen Propheten. Aber thatsächlich lösen sie sich doch nur
langsam von dem Boden, der sie zeugte und nährt, von den Erinnerungen,
die ihnen von Kindesbeinen an heilig und theuer waren, von den Gewohnheiten
der ehrbaren Sitte und Zucht, welche ihr kleines Dasein hegten und schirmten.
Nicht nnr der deutsche Arbeiterstand, sondern auch die große Mehrheit der
sozialdemokratischen Anhängerschaft, wie zähe sie unter dem dauernden Drucke
einer schweren Zeit an ihren verkehrten Hoffnungen hängen mag, ist noch
wesentlich frei von der moralischen Zersetzung durch jene Demagogie. Allein
andererseits darf man nicht übersehen, daß der Tropfen anfängt den Stein zu
höhlen, daß die Gefahr mit entsetzlicher Schnelligkeit um sich greift, daß auf
unsern Märkten und Gassen schon massenhaft jene hohlen, leeren, nichtigen
Gestalten wimmeln, die glücklich alle Fesseln moderner Bildung und Gesittung
abgestreift haben, die an Himmel und Erde nur noch dnrch das wahnsinnige
Bewußtsein geknüpft sind, die Träger einer ungeheuren Zukunft zu sein, Wohl
und Wehe der Menschen in ihrem verbrannten Hirne zu wälzen. Sie verbreiten
eine eigenartig krankhafte Atmosphäre um sich, die alle haltlosen und schwachen


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[0438] je von servilen Höflingen gegenüber despotischen Herrschern geleistet worden ist. Auch hier ist ein ungeheuerlicher Fortschritt über Lassalle hinaus zu er¬ kennen. Lassalle sah anch in dem Arbeiterstande den Träger der Zukunft, aber eben nur in der Idee, in dem Prinzipe des Standes, nicht in seinen einzelnen Individuen, von denen er vielmehr behauptete, daß jede soziale Reform uicht der Mühe werth wäre, wenn sie blieben, was sie augenblicklich seien. Umge¬ kehrt wird jetzt, obgleich die arbeitenden Klassen seit Jahrhunderten geflissentlich in Unwissenheit und Versimpelung erhalten worden sein, obgleich sie fort und fort mit allen Mitteln eines gewissenlosen Despotismus in den Schulen ver¬ dummt werden sollen, jeder einzelne Arbeiter an und für sich als der bravste, edelste, tüchtigste, weiseste Mensch gepriesen, fähig, ans sich selbst heraus alle schwierigsten Probleme der Politik und Wissenschaft mit unfehlbarer Sicherheit zu entscheiden. So wird in den untern Schichten des Volks ein Selbstgefühl gezüchtet, das ihr ganzes Denken und Empfinden grenzenlos überwuchert; ein Größenwahn greift um sich, wie er als nationale Krankheit noch niemals in den Annalen der Weltgeschichte verzeichnet worden ist. Es liegt auf der Hand, daß die Wirkungen einer derartigen Agitation, die, wie schlau immer ihr letzter Hintergedanke sei, doch mit so plumpen Mitteln arbeiten muß, sich nicht von heute auf morgen äußern können. Dazu ist unser Volk zu ehrlich, zu nüchtern, zu verständig. Die unbehaglichen Wirren der gewaltigen Uebergangsepoche, in welcher wir auf politischem, religiösem, wirth- schaftlichem Gebiete leben, bieten fast unerschöpfliche Quellen der Unzufrieden¬ heit, und nur zu leicht horchen die Armen im Geiste auf die dreisten Ver¬ sprechungen der neuen Propheten. Aber thatsächlich lösen sie sich doch nur langsam von dem Boden, der sie zeugte und nährt, von den Erinnerungen, die ihnen von Kindesbeinen an heilig und theuer waren, von den Gewohnheiten der ehrbaren Sitte und Zucht, welche ihr kleines Dasein hegten und schirmten. Nicht nnr der deutsche Arbeiterstand, sondern auch die große Mehrheit der sozialdemokratischen Anhängerschaft, wie zähe sie unter dem dauernden Drucke einer schweren Zeit an ihren verkehrten Hoffnungen hängen mag, ist noch wesentlich frei von der moralischen Zersetzung durch jene Demagogie. Allein andererseits darf man nicht übersehen, daß der Tropfen anfängt den Stein zu höhlen, daß die Gefahr mit entsetzlicher Schnelligkeit um sich greift, daß auf unsern Märkten und Gassen schon massenhaft jene hohlen, leeren, nichtigen Gestalten wimmeln, die glücklich alle Fesseln moderner Bildung und Gesittung abgestreift haben, die an Himmel und Erde nur noch dnrch das wahnsinnige Bewußtsein geknüpft sind, die Träger einer ungeheuren Zukunft zu sein, Wohl und Wehe der Menschen in ihrem verbrannten Hirne zu wälzen. Sie verbreiten eine eigenartig krankhafte Atmosphäre um sich, die alle haltlosen und schwachen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157661/438>, abgerufen am 22.07.2024.