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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band.

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würdigi:" Insinuation, ein Idiot oder ein Schelm zu sein; mit namenloser
Perfidie werden die ärgsten Verleumdungen über jeden Gegner ausgeschüttet,
welcher den Demagogen irgendwie ein Dorn im Auge ist. Mai: denke nur bei¬
spielsweise an die skandalöse Polemik des "Vorwärts" gegen Unruh, welche die
schlimmsten Leistungen der "Neichsglocke" in den Schatten stellte! Und wie mit
den Personen, so mit den Dingen. Hört man den schon tausendstimmiger
Chorus der sozialdemokratischen Agitatoren, Blätter, Flugschriften, so ist die
Religion ein leerer Humbug, erfunden von Betrügern, um Narren zu bethören,
der Patriotismus ein verhüllender Schleier für Raub und Mord, die Ehe eine
staatlich konzessionirte Prostitution, die Wissenschaft eine felle Dirne des Volks¬
verraths, die Schule eine Verduminnugsanstalt iM "Dienste gegen die Freiheit",
der Reichstag, um eine nnmuthige Phrase Liebknecht's zu zitiren, ein Haufe
von Junkern, .Apostaten und Nullen, der als Marionette am Drahte eiues
Menschen und Recht verachtenden Staatsmanns tanzt, die Presse ein einziger
Reptiliensnmpf der Korruption. Genug dieser ekelerregenden Schimpfworte,
die Jeder zum Ueberdruß kennt, der seit 10 Jahren die Presse der Partei ver¬
folgt und die Jeder kennen lernen kann, der einmal einen Jahrgang des "Vor¬
wärts" durchblättert.

So wird mit wahrhaft höllemnäßiger Raffinirtheit aus den Seelen der
Arbeiter jede Faser zu jäteu gesucht, welche sie mit ihrem Vaterlande und ihren
Volksgenossen verbindet; so wird in ihnen der letzte Funke der Hoffnung zer¬
treten und das Gefühl der rettungslosesten Verzweiflung entfacht. Und was
wird ihnen dafür geboten? Gutgläubige Enthusiasten sagen: ein Gedanke, ein
Glaube, ein System. Aber es giebt keine irrigere Anschauung. Gerade wer
mit verstättdniswvllem Interesse den nichts weniger wie leicht gangbaren Pfaden
des wissenschaftlichen Sozialismus folgt, wird sich über nichts klarer sein als
darüber, daß anch nicht der leiseste Hauch, nicht der blässeste Schatten dieser
geistigen Bewegung in die Arbeiterkreise fällt, welche von der kommunistischen
Demagogie verstrickt sind. Positiv fördert sie nichts zu Tage als eine Reihe
von Schlagworten, von denen gemeiniglich eins immer das andere zu verschlingen
Pflegt. Nicht weniger als viermal hat in der kurzen Frist von anderthalb
Jahrzehnten das Parteiprogramm radikal umgewälzt werden müssen, und doch
waren alle diese Programme schon an sich elastisch und weitschichtig genng, um
alles Mögliche aus ihnen heraus- oder in sie hineinleseu zu können. Nein,
diese Phrasen, welche wie Handschuhe gewechselt werden, siud uur mehr oder
minder ebenso sinnlose wie überflüssige Arabesken auf dem Wechsel, der auf
irgend eine ungeheure Umwälzung in irgend welcher Zukunft gezogen wird,
Was den arbeitenden Klassen in Wahrheit geboten wird, ist eine hündische
Schmeichelei, gegen welche alles verblassend zurücktritt, was auf diesem Gebiete


würdigi:» Insinuation, ein Idiot oder ein Schelm zu sein; mit namenloser
Perfidie werden die ärgsten Verleumdungen über jeden Gegner ausgeschüttet,
welcher den Demagogen irgendwie ein Dorn im Auge ist. Mai: denke nur bei¬
spielsweise an die skandalöse Polemik des „Vorwärts" gegen Unruh, welche die
schlimmsten Leistungen der „Neichsglocke" in den Schatten stellte! Und wie mit
den Personen, so mit den Dingen. Hört man den schon tausendstimmiger
Chorus der sozialdemokratischen Agitatoren, Blätter, Flugschriften, so ist die
Religion ein leerer Humbug, erfunden von Betrügern, um Narren zu bethören,
der Patriotismus ein verhüllender Schleier für Raub und Mord, die Ehe eine
staatlich konzessionirte Prostitution, die Wissenschaft eine felle Dirne des Volks¬
verraths, die Schule eine Verduminnugsanstalt iM „Dienste gegen die Freiheit",
der Reichstag, um eine nnmuthige Phrase Liebknecht's zu zitiren, ein Haufe
von Junkern, .Apostaten und Nullen, der als Marionette am Drahte eiues
Menschen und Recht verachtenden Staatsmanns tanzt, die Presse ein einziger
Reptiliensnmpf der Korruption. Genug dieser ekelerregenden Schimpfworte,
die Jeder zum Ueberdruß kennt, der seit 10 Jahren die Presse der Partei ver¬
folgt und die Jeder kennen lernen kann, der einmal einen Jahrgang des „Vor¬
wärts" durchblättert.

So wird mit wahrhaft höllemnäßiger Raffinirtheit aus den Seelen der
Arbeiter jede Faser zu jäteu gesucht, welche sie mit ihrem Vaterlande und ihren
Volksgenossen verbindet; so wird in ihnen der letzte Funke der Hoffnung zer¬
treten und das Gefühl der rettungslosesten Verzweiflung entfacht. Und was
wird ihnen dafür geboten? Gutgläubige Enthusiasten sagen: ein Gedanke, ein
Glaube, ein System. Aber es giebt keine irrigere Anschauung. Gerade wer
mit verstättdniswvllem Interesse den nichts weniger wie leicht gangbaren Pfaden
des wissenschaftlichen Sozialismus folgt, wird sich über nichts klarer sein als
darüber, daß anch nicht der leiseste Hauch, nicht der blässeste Schatten dieser
geistigen Bewegung in die Arbeiterkreise fällt, welche von der kommunistischen
Demagogie verstrickt sind. Positiv fördert sie nichts zu Tage als eine Reihe
von Schlagworten, von denen gemeiniglich eins immer das andere zu verschlingen
Pflegt. Nicht weniger als viermal hat in der kurzen Frist von anderthalb
Jahrzehnten das Parteiprogramm radikal umgewälzt werden müssen, und doch
waren alle diese Programme schon an sich elastisch und weitschichtig genng, um
alles Mögliche aus ihnen heraus- oder in sie hineinleseu zu können. Nein,
diese Phrasen, welche wie Handschuhe gewechselt werden, siud uur mehr oder
minder ebenso sinnlose wie überflüssige Arabesken auf dem Wechsel, der auf
irgend eine ungeheure Umwälzung in irgend welcher Zukunft gezogen wird,
Was den arbeitenden Klassen in Wahrheit geboten wird, ist eine hündische
Schmeichelei, gegen welche alles verblassend zurücktritt, was auf diesem Gebiete


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[0437] würdigi:» Insinuation, ein Idiot oder ein Schelm zu sein; mit namenloser Perfidie werden die ärgsten Verleumdungen über jeden Gegner ausgeschüttet, welcher den Demagogen irgendwie ein Dorn im Auge ist. Mai: denke nur bei¬ spielsweise an die skandalöse Polemik des „Vorwärts" gegen Unruh, welche die schlimmsten Leistungen der „Neichsglocke" in den Schatten stellte! Und wie mit den Personen, so mit den Dingen. Hört man den schon tausendstimmiger Chorus der sozialdemokratischen Agitatoren, Blätter, Flugschriften, so ist die Religion ein leerer Humbug, erfunden von Betrügern, um Narren zu bethören, der Patriotismus ein verhüllender Schleier für Raub und Mord, die Ehe eine staatlich konzessionirte Prostitution, die Wissenschaft eine felle Dirne des Volks¬ verraths, die Schule eine Verduminnugsanstalt iM „Dienste gegen die Freiheit", der Reichstag, um eine nnmuthige Phrase Liebknecht's zu zitiren, ein Haufe von Junkern, .Apostaten und Nullen, der als Marionette am Drahte eiues Menschen und Recht verachtenden Staatsmanns tanzt, die Presse ein einziger Reptiliensnmpf der Korruption. Genug dieser ekelerregenden Schimpfworte, die Jeder zum Ueberdruß kennt, der seit 10 Jahren die Presse der Partei ver¬ folgt und die Jeder kennen lernen kann, der einmal einen Jahrgang des „Vor¬ wärts" durchblättert. So wird mit wahrhaft höllemnäßiger Raffinirtheit aus den Seelen der Arbeiter jede Faser zu jäteu gesucht, welche sie mit ihrem Vaterlande und ihren Volksgenossen verbindet; so wird in ihnen der letzte Funke der Hoffnung zer¬ treten und das Gefühl der rettungslosesten Verzweiflung entfacht. Und was wird ihnen dafür geboten? Gutgläubige Enthusiasten sagen: ein Gedanke, ein Glaube, ein System. Aber es giebt keine irrigere Anschauung. Gerade wer mit verstättdniswvllem Interesse den nichts weniger wie leicht gangbaren Pfaden des wissenschaftlichen Sozialismus folgt, wird sich über nichts klarer sein als darüber, daß anch nicht der leiseste Hauch, nicht der blässeste Schatten dieser geistigen Bewegung in die Arbeiterkreise fällt, welche von der kommunistischen Demagogie verstrickt sind. Positiv fördert sie nichts zu Tage als eine Reihe von Schlagworten, von denen gemeiniglich eins immer das andere zu verschlingen Pflegt. Nicht weniger als viermal hat in der kurzen Frist von anderthalb Jahrzehnten das Parteiprogramm radikal umgewälzt werden müssen, und doch waren alle diese Programme schon an sich elastisch und weitschichtig genng, um alles Mögliche aus ihnen heraus- oder in sie hineinleseu zu können. Nein, diese Phrasen, welche wie Handschuhe gewechselt werden, siud uur mehr oder minder ebenso sinnlose wie überflüssige Arabesken auf dem Wechsel, der auf irgend eine ungeheure Umwälzung in irgend welcher Zukunft gezogen wird, Was den arbeitenden Klassen in Wahrheit geboten wird, ist eine hündische Schmeichelei, gegen welche alles verblassend zurücktritt, was auf diesem Gebiete

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157661/437>, abgerufen am 22.07.2024.