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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band.

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das "Demokratische Wochenblatt", welches Liebknecht 1868 gründete, um das
einzuleiten, was seine Londoner Meister unter revolutionärer Aufregung und
Verbitterung der Massen verstehen. Bis dahin hatte die sozialdemokratische
Bewegung unter den Auspizien Lassalle's und Schweitzer's gestanden, und wie
heftig und leidenschaftlich, ja selbst frech und roh diese Männer kämpfen mochten,
so richtete sich ihre Opposition doch wesentlich gegen wirthschaftliche Einrich¬
tungen und behielt auf allen übrigen Gebieten einigermaßen Fühlung mit der
modernen Kultur. Beide hatten ein stark ausgeprägtes Nationalgefühl und be¬
kundeten tiefen Respekt vor den leuchtenden Gestalten der Geschichte und Wissen¬
schaft; Lassalle's schwärmerische Verehrung für Luther, Schiller, Fichte ist hin¬
länglich bekannt. Anders, als nunmehr Liebknecht und Genossen in die Saiten
der Zuknnftsharfe griffen! Nun war nicht nur die wirthschaftliche Ordnung
von heute auf Betrug und Raub gegründet, sondern die ganze deutsche Ge¬
schichte war eine albern-boshafte Intrigue von Betrügern und Narren, Luther
ein "boruirter Pfaff", Melanchthon ein "fistelnder Schleicher", wie die von
Lassalle so hoch gefeierten Reformatoren in Bebel's "Bauernkrieg" genannt
werden. Schiller wurde zu einem reaktionären Phrasendrescher, was ein be-
kannter Agitator in einer Berliner Volksversammlung einmal durch die Zitate:


An's Vaterland, ein's theure, schließ' dich an!

und


Wo sich die Völker selbst befrein,
Da kann die Wohlfahrt nicht gedeihn,

unter dem tobenden Beifall der so grauenhaft genasführten Arbeiter bewies.
Goethe ging es anfangs nicht besser; er wurde als serviler Hofpoet vervehmt,
bis kürzlich allerdings ein Gelehrter der Partei aus "Wilhelm Meister" nach¬
gewiesen hat, daß der Altmeister von Weimar ein verkappter Sozialdemokrat
gewesen sei. Die großen Feldherren der dentschen Geschichte waren selbstver¬
ständlich durchweg "Gurgelabschneider" und "Landsknechte". Und so fort. Was
dies schändliche Treiben mit der kommunistischen Theorie an sich zu thun hat,
weshalb alle theuersten Erinnerungen der Nation in den Koth der Verleumdung ge¬
zerrt werden müssen, um zu erhärten, daß das Gemeineigentum an allen Arbeits-
werkzengen die allgemeine Glückseligkeit hervorrufen müsse, bleibt völlig un¬
erfindlich; Männer, wie Rodbertus, F. A. Lange, Schäffle haben doch den
sozialistischen Gedanken und zwar etwa hundertmal so geistvoll und tiefsinnig
zu entwickeln vermocht, wie die Gelehrten des "Vorwärts", ohne daß ihr drittes
Wort eine Schimpfrede und ihr zehntes Wort eine nichtswürdige Lüge war.
Und noch ärger ging und geht es natürlich über die ideellen Grundlagen, über
die hervorragenden Trüger der heutigen Ordnung her. Kein Talent und kein
Verdienst schützt irgend einen antisozialdemokratischen Politiker vor der lichens-


das „Demokratische Wochenblatt", welches Liebknecht 1868 gründete, um das
einzuleiten, was seine Londoner Meister unter revolutionärer Aufregung und
Verbitterung der Massen verstehen. Bis dahin hatte die sozialdemokratische
Bewegung unter den Auspizien Lassalle's und Schweitzer's gestanden, und wie
heftig und leidenschaftlich, ja selbst frech und roh diese Männer kämpfen mochten,
so richtete sich ihre Opposition doch wesentlich gegen wirthschaftliche Einrich¬
tungen und behielt auf allen übrigen Gebieten einigermaßen Fühlung mit der
modernen Kultur. Beide hatten ein stark ausgeprägtes Nationalgefühl und be¬
kundeten tiefen Respekt vor den leuchtenden Gestalten der Geschichte und Wissen¬
schaft; Lassalle's schwärmerische Verehrung für Luther, Schiller, Fichte ist hin¬
länglich bekannt. Anders, als nunmehr Liebknecht und Genossen in die Saiten
der Zuknnftsharfe griffen! Nun war nicht nur die wirthschaftliche Ordnung
von heute auf Betrug und Raub gegründet, sondern die ganze deutsche Ge¬
schichte war eine albern-boshafte Intrigue von Betrügern und Narren, Luther
ein „boruirter Pfaff", Melanchthon ein „fistelnder Schleicher", wie die von
Lassalle so hoch gefeierten Reformatoren in Bebel's „Bauernkrieg" genannt
werden. Schiller wurde zu einem reaktionären Phrasendrescher, was ein be-
kannter Agitator in einer Berliner Volksversammlung einmal durch die Zitate:


An's Vaterland, ein's theure, schließ' dich an!

und


Wo sich die Völker selbst befrein,
Da kann die Wohlfahrt nicht gedeihn,

unter dem tobenden Beifall der so grauenhaft genasführten Arbeiter bewies.
Goethe ging es anfangs nicht besser; er wurde als serviler Hofpoet vervehmt,
bis kürzlich allerdings ein Gelehrter der Partei aus „Wilhelm Meister" nach¬
gewiesen hat, daß der Altmeister von Weimar ein verkappter Sozialdemokrat
gewesen sei. Die großen Feldherren der dentschen Geschichte waren selbstver¬
ständlich durchweg „Gurgelabschneider" und „Landsknechte". Und so fort. Was
dies schändliche Treiben mit der kommunistischen Theorie an sich zu thun hat,
weshalb alle theuersten Erinnerungen der Nation in den Koth der Verleumdung ge¬
zerrt werden müssen, um zu erhärten, daß das Gemeineigentum an allen Arbeits-
werkzengen die allgemeine Glückseligkeit hervorrufen müsse, bleibt völlig un¬
erfindlich; Männer, wie Rodbertus, F. A. Lange, Schäffle haben doch den
sozialistischen Gedanken und zwar etwa hundertmal so geistvoll und tiefsinnig
zu entwickeln vermocht, wie die Gelehrten des „Vorwärts", ohne daß ihr drittes
Wort eine Schimpfrede und ihr zehntes Wort eine nichtswürdige Lüge war.
Und noch ärger ging und geht es natürlich über die ideellen Grundlagen, über
die hervorragenden Trüger der heutigen Ordnung her. Kein Talent und kein
Verdienst schützt irgend einen antisozialdemokratischen Politiker vor der lichens-


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[0436] das „Demokratische Wochenblatt", welches Liebknecht 1868 gründete, um das einzuleiten, was seine Londoner Meister unter revolutionärer Aufregung und Verbitterung der Massen verstehen. Bis dahin hatte die sozialdemokratische Bewegung unter den Auspizien Lassalle's und Schweitzer's gestanden, und wie heftig und leidenschaftlich, ja selbst frech und roh diese Männer kämpfen mochten, so richtete sich ihre Opposition doch wesentlich gegen wirthschaftliche Einrich¬ tungen und behielt auf allen übrigen Gebieten einigermaßen Fühlung mit der modernen Kultur. Beide hatten ein stark ausgeprägtes Nationalgefühl und be¬ kundeten tiefen Respekt vor den leuchtenden Gestalten der Geschichte und Wissen¬ schaft; Lassalle's schwärmerische Verehrung für Luther, Schiller, Fichte ist hin¬ länglich bekannt. Anders, als nunmehr Liebknecht und Genossen in die Saiten der Zuknnftsharfe griffen! Nun war nicht nur die wirthschaftliche Ordnung von heute auf Betrug und Raub gegründet, sondern die ganze deutsche Ge¬ schichte war eine albern-boshafte Intrigue von Betrügern und Narren, Luther ein „boruirter Pfaff", Melanchthon ein „fistelnder Schleicher", wie die von Lassalle so hoch gefeierten Reformatoren in Bebel's „Bauernkrieg" genannt werden. Schiller wurde zu einem reaktionären Phrasendrescher, was ein be- kannter Agitator in einer Berliner Volksversammlung einmal durch die Zitate: An's Vaterland, ein's theure, schließ' dich an! und Wo sich die Völker selbst befrein, Da kann die Wohlfahrt nicht gedeihn, unter dem tobenden Beifall der so grauenhaft genasführten Arbeiter bewies. Goethe ging es anfangs nicht besser; er wurde als serviler Hofpoet vervehmt, bis kürzlich allerdings ein Gelehrter der Partei aus „Wilhelm Meister" nach¬ gewiesen hat, daß der Altmeister von Weimar ein verkappter Sozialdemokrat gewesen sei. Die großen Feldherren der dentschen Geschichte waren selbstver¬ ständlich durchweg „Gurgelabschneider" und „Landsknechte". Und so fort. Was dies schändliche Treiben mit der kommunistischen Theorie an sich zu thun hat, weshalb alle theuersten Erinnerungen der Nation in den Koth der Verleumdung ge¬ zerrt werden müssen, um zu erhärten, daß das Gemeineigentum an allen Arbeits- werkzengen die allgemeine Glückseligkeit hervorrufen müsse, bleibt völlig un¬ erfindlich; Männer, wie Rodbertus, F. A. Lange, Schäffle haben doch den sozialistischen Gedanken und zwar etwa hundertmal so geistvoll und tiefsinnig zu entwickeln vermocht, wie die Gelehrten des „Vorwärts", ohne daß ihr drittes Wort eine Schimpfrede und ihr zehntes Wort eine nichtswürdige Lüge war. Und noch ärger ging und geht es natürlich über die ideellen Grundlagen, über die hervorragenden Trüger der heutigen Ordnung her. Kein Talent und kein Verdienst schützt irgend einen antisozialdemokratischen Politiker vor der lichens-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157661/436>, abgerufen am 22.07.2024.