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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band.

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darüber hinaus, Gott als den einen unendlichen, einheitlichen Grund der Welt
anzusehen. So lauge Gott aber nur als Grund, nicht auch als Ursache der
Welt erscheint, ist der Boden des Pantheismus nicht verlassen.

Einen ganz anderen Geist athmet der vortreffliche Aufsatz Professor Dr.
Heinriei's aus Marburg über die Sünde nach Wesen und Ursprung. Die
Möglichkeit der Sünde ist ihm mit der Schöpfung vernunftbegabter Wesen ge¬
geben, denn die Vernunft schließt die Kraft freier Selbstbestimmung in sich,
ihre Wirklichkeit durch eine freie, Gottes Willen widerstreitende That bedingt,
welche entscheidend geworden ist auch für das ganze Geschlecht. Der verkehrte
Gebrauch der Freiheit^ hat die niedere Natur ans der gottgewollten Abhän¬
gigkeit von der Vernunft entlassen. Entfesselt ringt sie unablässig um die
Herrschaft, und jeder Sieg vermehrt ihre Macht und wirkt fort ans den Zu¬
stand des ganzen Geschlechts. Unter diesen Einfluß tritt der Mensch der Er¬
fahrung, welcher an seinem Theile das Ergebniß der gesammten Entwicklung
der Menschheit ist. Mit dem Erwachen des Bewußtseins erfährt er die Macht
seiner dnrch unabsehbare Reihen der Vorfahren unbewußt bestimmter niederer
Kräfte, welche ihm einen Kampf aufzwingen, der bald zur Ermüdung, nie zum
Frieden führt, welche die Erreichung des Ideals ihm versagen. Dieser Zustand
sittlicher Ohnmacht ist die Erbsünde, richtiger die moralische Erbkrankheit, die
sich zur Gattungssünde gestaltet und fortbildet.

Einen freisinnigen Aufsatz bietet uns Kirchenrath und Professor Dr. Lipsius
in Jena. Den Gegenstand derselben bildet die göttliche Weltregierung. Lipsius
sucht die Theodizee in der Erhebung zur sittlichen Freiheit des Reiches Gottes,
die dein Einzelnen einen unendlichen Werth und eine Seligkeit vermittelt, welche
dnrch keine Störungen innerhalb der Sinnenwelt erschüttert werden kaun, in
ihnen sich vielmehr befestigt und bewährt. Sind wir um auch mit dem Ver¬
fasser darin vollkommen in Uebereinstimmung, daß die von ihm gewählte Be¬
trachtungsweise eine zutreffende ist, so müssen wir doch darauf dringen, daß
sie durch eine andere ergänzt werde. Ohne die von Strauß geschmähte An¬
leihe beim Jenseits ist eine Theodizee nicht möglich. Ohne die darauf begrün¬
dete Hoffnung würde die sittliche Kraft in uns schwinden, während wir jetzt
durch dieselbe sie bewahren. Der gewisse Glaube an eine Welt vollkommener
Harmonie zwischen Innerem und Aeußeren, zwischen Sein und Erscheinung ist
ein unentbehrlicher Faktor für das Entstehen und Bestehen sittlicher Freudigkeit
und Entschiedenheit gegenüber den Uebeln, welchen wir ausgesetzt sind. Und
giebt es nicht eine Klasse von Menschen, denen sittliche Erhebung durch körper¬
liches Leiden unmöglich gemacht ist, die Geisteskranken, deren Zustand jede
Theodizee entwaffnet, die vom Jenseits absieht?

Peinlich berührt hat uns der Vortrag Professor Pfleiderer's in Berlin:


darüber hinaus, Gott als den einen unendlichen, einheitlichen Grund der Welt
anzusehen. So lauge Gott aber nur als Grund, nicht auch als Ursache der
Welt erscheint, ist der Boden des Pantheismus nicht verlassen.

Einen ganz anderen Geist athmet der vortreffliche Aufsatz Professor Dr.
Heinriei's aus Marburg über die Sünde nach Wesen und Ursprung. Die
Möglichkeit der Sünde ist ihm mit der Schöpfung vernunftbegabter Wesen ge¬
geben, denn die Vernunft schließt die Kraft freier Selbstbestimmung in sich,
ihre Wirklichkeit durch eine freie, Gottes Willen widerstreitende That bedingt,
welche entscheidend geworden ist auch für das ganze Geschlecht. Der verkehrte
Gebrauch der Freiheit^ hat die niedere Natur ans der gottgewollten Abhän¬
gigkeit von der Vernunft entlassen. Entfesselt ringt sie unablässig um die
Herrschaft, und jeder Sieg vermehrt ihre Macht und wirkt fort ans den Zu¬
stand des ganzen Geschlechts. Unter diesen Einfluß tritt der Mensch der Er¬
fahrung, welcher an seinem Theile das Ergebniß der gesammten Entwicklung
der Menschheit ist. Mit dem Erwachen des Bewußtseins erfährt er die Macht
seiner dnrch unabsehbare Reihen der Vorfahren unbewußt bestimmter niederer
Kräfte, welche ihm einen Kampf aufzwingen, der bald zur Ermüdung, nie zum
Frieden führt, welche die Erreichung des Ideals ihm versagen. Dieser Zustand
sittlicher Ohnmacht ist die Erbsünde, richtiger die moralische Erbkrankheit, die
sich zur Gattungssünde gestaltet und fortbildet.

Einen freisinnigen Aufsatz bietet uns Kirchenrath und Professor Dr. Lipsius
in Jena. Den Gegenstand derselben bildet die göttliche Weltregierung. Lipsius
sucht die Theodizee in der Erhebung zur sittlichen Freiheit des Reiches Gottes,
die dein Einzelnen einen unendlichen Werth und eine Seligkeit vermittelt, welche
dnrch keine Störungen innerhalb der Sinnenwelt erschüttert werden kaun, in
ihnen sich vielmehr befestigt und bewährt. Sind wir um auch mit dem Ver¬
fasser darin vollkommen in Uebereinstimmung, daß die von ihm gewählte Be¬
trachtungsweise eine zutreffende ist, so müssen wir doch darauf dringen, daß
sie durch eine andere ergänzt werde. Ohne die von Strauß geschmähte An¬
leihe beim Jenseits ist eine Theodizee nicht möglich. Ohne die darauf begrün¬
dete Hoffnung würde die sittliche Kraft in uns schwinden, während wir jetzt
durch dieselbe sie bewahren. Der gewisse Glaube an eine Welt vollkommener
Harmonie zwischen Innerem und Aeußeren, zwischen Sein und Erscheinung ist
ein unentbehrlicher Faktor für das Entstehen und Bestehen sittlicher Freudigkeit
und Entschiedenheit gegenüber den Uebeln, welchen wir ausgesetzt sind. Und
giebt es nicht eine Klasse von Menschen, denen sittliche Erhebung durch körper¬
liches Leiden unmöglich gemacht ist, die Geisteskranken, deren Zustand jede
Theodizee entwaffnet, die vom Jenseits absieht?

Peinlich berührt hat uns der Vortrag Professor Pfleiderer's in Berlin:


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[0426] darüber hinaus, Gott als den einen unendlichen, einheitlichen Grund der Welt anzusehen. So lauge Gott aber nur als Grund, nicht auch als Ursache der Welt erscheint, ist der Boden des Pantheismus nicht verlassen. Einen ganz anderen Geist athmet der vortreffliche Aufsatz Professor Dr. Heinriei's aus Marburg über die Sünde nach Wesen und Ursprung. Die Möglichkeit der Sünde ist ihm mit der Schöpfung vernunftbegabter Wesen ge¬ geben, denn die Vernunft schließt die Kraft freier Selbstbestimmung in sich, ihre Wirklichkeit durch eine freie, Gottes Willen widerstreitende That bedingt, welche entscheidend geworden ist auch für das ganze Geschlecht. Der verkehrte Gebrauch der Freiheit^ hat die niedere Natur ans der gottgewollten Abhän¬ gigkeit von der Vernunft entlassen. Entfesselt ringt sie unablässig um die Herrschaft, und jeder Sieg vermehrt ihre Macht und wirkt fort ans den Zu¬ stand des ganzen Geschlechts. Unter diesen Einfluß tritt der Mensch der Er¬ fahrung, welcher an seinem Theile das Ergebniß der gesammten Entwicklung der Menschheit ist. Mit dem Erwachen des Bewußtseins erfährt er die Macht seiner dnrch unabsehbare Reihen der Vorfahren unbewußt bestimmter niederer Kräfte, welche ihm einen Kampf aufzwingen, der bald zur Ermüdung, nie zum Frieden führt, welche die Erreichung des Ideals ihm versagen. Dieser Zustand sittlicher Ohnmacht ist die Erbsünde, richtiger die moralische Erbkrankheit, die sich zur Gattungssünde gestaltet und fortbildet. Einen freisinnigen Aufsatz bietet uns Kirchenrath und Professor Dr. Lipsius in Jena. Den Gegenstand derselben bildet die göttliche Weltregierung. Lipsius sucht die Theodizee in der Erhebung zur sittlichen Freiheit des Reiches Gottes, die dein Einzelnen einen unendlichen Werth und eine Seligkeit vermittelt, welche dnrch keine Störungen innerhalb der Sinnenwelt erschüttert werden kaun, in ihnen sich vielmehr befestigt und bewährt. Sind wir um auch mit dem Ver¬ fasser darin vollkommen in Uebereinstimmung, daß die von ihm gewählte Be¬ trachtungsweise eine zutreffende ist, so müssen wir doch darauf dringen, daß sie durch eine andere ergänzt werde. Ohne die von Strauß geschmähte An¬ leihe beim Jenseits ist eine Theodizee nicht möglich. Ohne die darauf begrün¬ dete Hoffnung würde die sittliche Kraft in uns schwinden, während wir jetzt durch dieselbe sie bewahren. Der gewisse Glaube an eine Welt vollkommener Harmonie zwischen Innerem und Aeußeren, zwischen Sein und Erscheinung ist ein unentbehrlicher Faktor für das Entstehen und Bestehen sittlicher Freudigkeit und Entschiedenheit gegenüber den Uebeln, welchen wir ausgesetzt sind. Und giebt es nicht eine Klasse von Menschen, denen sittliche Erhebung durch körper¬ liches Leiden unmöglich gemacht ist, die Geisteskranken, deren Zustand jede Theodizee entwaffnet, die vom Jenseits absieht? Peinlich berührt hat uns der Vortrag Professor Pfleiderer's in Berlin:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157661/426>, abgerufen am 22.07.2024.