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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band.

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^Literatur.

S. Kalischer, Goethe's Verhältniß zur Naturwissenschaft und seine
Bedeutung in derselben. Nebst einigen bisher ungedruckten Fragmenten von
Goethe. separat-Abdruck aus der neue" Ausgabe von Goethe's Werken. Berlin,
Gustav Hempel. 1L78. 0I.XXXIV S.

Diese Schrift verdient den Dank aller Gebildeten. Das Kapitel der natur¬
wissenschaftlichen Bestrebungen und Leistungen Goethe's bildet selbst für viele
seiner Verehrer ein moll ins t-MAsrs, obwohl er hierin eben so wunderbar groß
ist wie in den herrlichsten seiner schvnwissenschaftlichen Werke. Zwar haben
bekanntlich Naturforscher ersten Ranges, ein Virchow, Helmholtz :c., bereits
darüber geschrieben; allein fast noch mehr als ein tüchtiger Naturforscher muß
man hierbei ein sehr genauer Kenner der bezüglicher Arbeiten Goethe's und
seiner Zeitgenossen sein, um den zu machenden Anforderungen zu genügen.
Letzteres aber ist nicht leicht. Die in Betracht kommenden Aeußerungen Goethe's
hat man nicht blos in feinen Werken, sondern auch in seinen hundertfach zer¬
streuten Briefen und in schwer zu übersehenden Mittheilungen seiner Zeitge¬
nossen aufzusuchen. So ist z. B., wie Kalischer nachweist, selbst Düntzer eine
ausschlaggebende Aeußerung Goethe's entgangen, aus der die Priorität seiner
Auffassung der Schädelknochen als einer Art Rückenmcirkswirbel sich sonnenklar
ergiebt Kalischer genügt nun den hiernach zu stellenden Anforderungen nicht
nur als tüchtiger Naturforscher und mit der betreffenden Goethe-Literatur in
ungewöhnlichem Grade vertrauter Kenner, sondern er weiß auch seinen Gegen¬
stand so geschmackvoll darzustellen, daß sich die Schrift auf das Angenehmste
liest. Er zeigt zunächst in einem Kapitel über Goethe's Verhältniß zur Natur-
Wissenschaft (unseres Erachtens siegreich gegen Oscar Schmidt), daß Goethe
längst vor Darwin ganz dessen Ansichten gehabt habe; in ferneren Kapiteln
behandelt er sodann dessen tiefsinnige, epochemachende botanische, osteologische,
anatomische, mineralogische und geologische Entdeckungen und Auffassungen und
giebt die Nachweise, wie es dafür bei seinen Zeitgenossen gänzlich an Verständ¬
niß fehlte, so daß bekanntlich 30 bis 50 Jahre vergehen mußten, ehe alle
Widerbeller zum Schweigen gebracht wurden, und Goethe gegenüber der hoch-
müthig ablehnenden Haltung eines Sömmering und Kemzer in Bezug auf
seine Entdeckung des menschlichen Zwischenkiefer-Knochens zu der Aeußerung
veranlaßt wurde, er traue einem Gelehrten von Profession die Leugnung seiner
fünf Sinne zu -- wozu es, nebenbei bemerkt, auch bis heute nicht an erbau¬
lichen Belegen fehlt. In dem Kapitel über Goethe's mineralogische und geolo-
lische Arbeiten bringt Kalischer zugleich sehr interessante, bisher ungedruckte


^Literatur.

S. Kalischer, Goethe's Verhältniß zur Naturwissenschaft und seine
Bedeutung in derselben. Nebst einigen bisher ungedruckten Fragmenten von
Goethe. separat-Abdruck aus der neue« Ausgabe von Goethe's Werken. Berlin,
Gustav Hempel. 1L78. 0I.XXXIV S.

Diese Schrift verdient den Dank aller Gebildeten. Das Kapitel der natur¬
wissenschaftlichen Bestrebungen und Leistungen Goethe's bildet selbst für viele
seiner Verehrer ein moll ins t-MAsrs, obwohl er hierin eben so wunderbar groß
ist wie in den herrlichsten seiner schvnwissenschaftlichen Werke. Zwar haben
bekanntlich Naturforscher ersten Ranges, ein Virchow, Helmholtz :c., bereits
darüber geschrieben; allein fast noch mehr als ein tüchtiger Naturforscher muß
man hierbei ein sehr genauer Kenner der bezüglicher Arbeiten Goethe's und
seiner Zeitgenossen sein, um den zu machenden Anforderungen zu genügen.
Letzteres aber ist nicht leicht. Die in Betracht kommenden Aeußerungen Goethe's
hat man nicht blos in feinen Werken, sondern auch in seinen hundertfach zer¬
streuten Briefen und in schwer zu übersehenden Mittheilungen seiner Zeitge¬
nossen aufzusuchen. So ist z. B., wie Kalischer nachweist, selbst Düntzer eine
ausschlaggebende Aeußerung Goethe's entgangen, aus der die Priorität seiner
Auffassung der Schädelknochen als einer Art Rückenmcirkswirbel sich sonnenklar
ergiebt Kalischer genügt nun den hiernach zu stellenden Anforderungen nicht
nur als tüchtiger Naturforscher und mit der betreffenden Goethe-Literatur in
ungewöhnlichem Grade vertrauter Kenner, sondern er weiß auch seinen Gegen¬
stand so geschmackvoll darzustellen, daß sich die Schrift auf das Angenehmste
liest. Er zeigt zunächst in einem Kapitel über Goethe's Verhältniß zur Natur-
Wissenschaft (unseres Erachtens siegreich gegen Oscar Schmidt), daß Goethe
längst vor Darwin ganz dessen Ansichten gehabt habe; in ferneren Kapiteln
behandelt er sodann dessen tiefsinnige, epochemachende botanische, osteologische,
anatomische, mineralogische und geologische Entdeckungen und Auffassungen und
giebt die Nachweise, wie es dafür bei seinen Zeitgenossen gänzlich an Verständ¬
niß fehlte, so daß bekanntlich 30 bis 50 Jahre vergehen mußten, ehe alle
Widerbeller zum Schweigen gebracht wurden, und Goethe gegenüber der hoch-
müthig ablehnenden Haltung eines Sömmering und Kemzer in Bezug auf
seine Entdeckung des menschlichen Zwischenkiefer-Knochens zu der Aeußerung
veranlaßt wurde, er traue einem Gelehrten von Profession die Leugnung seiner
fünf Sinne zu — wozu es, nebenbei bemerkt, auch bis heute nicht an erbau¬
lichen Belegen fehlt. In dem Kapitel über Goethe's mineralogische und geolo-
lische Arbeiten bringt Kalischer zugleich sehr interessante, bisher ungedruckte


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[0407] ^Literatur. S. Kalischer, Goethe's Verhältniß zur Naturwissenschaft und seine Bedeutung in derselben. Nebst einigen bisher ungedruckten Fragmenten von Goethe. separat-Abdruck aus der neue« Ausgabe von Goethe's Werken. Berlin, Gustav Hempel. 1L78. 0I.XXXIV S. Diese Schrift verdient den Dank aller Gebildeten. Das Kapitel der natur¬ wissenschaftlichen Bestrebungen und Leistungen Goethe's bildet selbst für viele seiner Verehrer ein moll ins t-MAsrs, obwohl er hierin eben so wunderbar groß ist wie in den herrlichsten seiner schvnwissenschaftlichen Werke. Zwar haben bekanntlich Naturforscher ersten Ranges, ein Virchow, Helmholtz :c., bereits darüber geschrieben; allein fast noch mehr als ein tüchtiger Naturforscher muß man hierbei ein sehr genauer Kenner der bezüglicher Arbeiten Goethe's und seiner Zeitgenossen sein, um den zu machenden Anforderungen zu genügen. Letzteres aber ist nicht leicht. Die in Betracht kommenden Aeußerungen Goethe's hat man nicht blos in feinen Werken, sondern auch in seinen hundertfach zer¬ streuten Briefen und in schwer zu übersehenden Mittheilungen seiner Zeitge¬ nossen aufzusuchen. So ist z. B., wie Kalischer nachweist, selbst Düntzer eine ausschlaggebende Aeußerung Goethe's entgangen, aus der die Priorität seiner Auffassung der Schädelknochen als einer Art Rückenmcirkswirbel sich sonnenklar ergiebt Kalischer genügt nun den hiernach zu stellenden Anforderungen nicht nur als tüchtiger Naturforscher und mit der betreffenden Goethe-Literatur in ungewöhnlichem Grade vertrauter Kenner, sondern er weiß auch seinen Gegen¬ stand so geschmackvoll darzustellen, daß sich die Schrift auf das Angenehmste liest. Er zeigt zunächst in einem Kapitel über Goethe's Verhältniß zur Natur- Wissenschaft (unseres Erachtens siegreich gegen Oscar Schmidt), daß Goethe längst vor Darwin ganz dessen Ansichten gehabt habe; in ferneren Kapiteln behandelt er sodann dessen tiefsinnige, epochemachende botanische, osteologische, anatomische, mineralogische und geologische Entdeckungen und Auffassungen und giebt die Nachweise, wie es dafür bei seinen Zeitgenossen gänzlich an Verständ¬ niß fehlte, so daß bekanntlich 30 bis 50 Jahre vergehen mußten, ehe alle Widerbeller zum Schweigen gebracht wurden, und Goethe gegenüber der hoch- müthig ablehnenden Haltung eines Sömmering und Kemzer in Bezug auf seine Entdeckung des menschlichen Zwischenkiefer-Knochens zu der Aeußerung veranlaßt wurde, er traue einem Gelehrten von Profession die Leugnung seiner fünf Sinne zu — wozu es, nebenbei bemerkt, auch bis heute nicht an erbau¬ lichen Belegen fehlt. In dem Kapitel über Goethe's mineralogische und geolo- lische Arbeiten bringt Kalischer zugleich sehr interessante, bisher ungedruckte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157661/407>, abgerufen am 22.07.2024.