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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band.

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als wenn ein paar Münzen- oder Kupferstichsaminler einander begegnen: in der
Vollständigkeit ihrer Sammlungen, in dem Umfang ihrer Kenntnisse sich zu
vergleichen, das ist das denkbar größte Vergnügen.

So geht's einem nun. Ich war der großen Stadt entflohen, um in der
Nähe eines Thüringer Städtchens auf einer Sommerfrische, die ein Studien-
freund, der Rektor der dortigen höheren Lehranstalt, mir ausgesucht und em¬
pfohlen hatte, ein paar Wochen mir selbst und der Mutter Natur zu leben, und
Kunst und Wissenschaft und alle, die sich damit befassen, gründlich zu meiden.
Und kaum war ich drei Tage dort -- es half mir alle List und alles Sträuben
nichts -- da saß ich, mitten in dem "musikalischen Kränzchen", welches an
Wintersonutcigeu regelmäßig, aber auch im Sommer gelegentlich einen auser-
wählten kleinen Kreis von den "Honoratioren" des Städtchens zu vereinigen
pflegt und dessen Seele augenscheinlich unsre Frau Rektorin ist. Und da
schwelgten wir nun in Schumann und Brahms und Torte und süßem Wein, und
im Nebenzimmer schmauchten die älteren Herren und kannegießerten über die
Wahlumtriebe in den Raubstaaten, und draußen ans Gassen und Straßen --
der wundervollste blaue Himmel und Sonnenschein und eine Luft, fo rein
und mild, wie sie der ganze Sommer noch nicht geboten.

Die Frau Rektorin war aufgestanden und nach ihrem Notenständer ge¬
gangen. Als sie wieder an den Flügel trat, hielt sie einen starken Halbfranz¬
band in beiden Händen, mit hellgrünem Leder an Rücken und Ecken und
dunkelgrüner Leinwand auf den Deckeln, und als ich gar auf dem Rücken die
Worte las: Altenglische Volkslieder, da wurde mir vollends grün vor
den Augen. "Kennen Sie das?" fragte sie mich, und in ihrem Gesicht lag
die feste Zuversicht, daß das Neinsageu diesmal auf meiner Seite sein würde.
Ich machte denn auch keine vergeblichen Versuche, die Lückenhaftigkeit meiner
Kenntniß in diesem Falle zu bemänteln, sondern fragte nur mit möglichster
Gleichgiltigkeit dagegen: "Gewiß ein Geschenk Ihrer trefflichen pädagogischen
Freundin in Edinburgh?" -- "Ein Geschenk allerdings, mitsammt dem
schönen Bande, den hiesige Bnchbinderkunst schwerlich zu Stande gebracht hätte,
aber nicht aus Edinburgh, sondern aus Ihrer höchst musikalischen Metropole,
Verehrtester Herr Doktor. Dort sind die Lieder gedruckt, dort sind sie erschienen,
und von dort sind sie mir zugekommen. Im Ernste, kennen Sie sie nicht?" --
Ich mußte nochmals verneinen, und indem ich mir den Band ausbat und nun beim
Blättern die Titel von mindestens einem Dutzend verschiedener Liederhefte mit
etwa 200 Liedern mir an den Augen vorüberschwirrten, suchte ich durch einige zwei¬
felnde Fragen meiner Unkenntniß eine gewisse Berechtigung zu verleihen.
"Tangen die Lieder wirklich etwas? Sind sie für deutsche Ohren genießbar?" --
"Die Antwort können Sie sich leicht selber geben. Haben Sie jemals etwas


als wenn ein paar Münzen- oder Kupferstichsaminler einander begegnen: in der
Vollständigkeit ihrer Sammlungen, in dem Umfang ihrer Kenntnisse sich zu
vergleichen, das ist das denkbar größte Vergnügen.

So geht's einem nun. Ich war der großen Stadt entflohen, um in der
Nähe eines Thüringer Städtchens auf einer Sommerfrische, die ein Studien-
freund, der Rektor der dortigen höheren Lehranstalt, mir ausgesucht und em¬
pfohlen hatte, ein paar Wochen mir selbst und der Mutter Natur zu leben, und
Kunst und Wissenschaft und alle, die sich damit befassen, gründlich zu meiden.
Und kaum war ich drei Tage dort — es half mir alle List und alles Sträuben
nichts — da saß ich, mitten in dem „musikalischen Kränzchen", welches an
Wintersonutcigeu regelmäßig, aber auch im Sommer gelegentlich einen auser-
wählten kleinen Kreis von den „Honoratioren" des Städtchens zu vereinigen
pflegt und dessen Seele augenscheinlich unsre Frau Rektorin ist. Und da
schwelgten wir nun in Schumann und Brahms und Torte und süßem Wein, und
im Nebenzimmer schmauchten die älteren Herren und kannegießerten über die
Wahlumtriebe in den Raubstaaten, und draußen ans Gassen und Straßen —
der wundervollste blaue Himmel und Sonnenschein und eine Luft, fo rein
und mild, wie sie der ganze Sommer noch nicht geboten.

Die Frau Rektorin war aufgestanden und nach ihrem Notenständer ge¬
gangen. Als sie wieder an den Flügel trat, hielt sie einen starken Halbfranz¬
band in beiden Händen, mit hellgrünem Leder an Rücken und Ecken und
dunkelgrüner Leinwand auf den Deckeln, und als ich gar auf dem Rücken die
Worte las: Altenglische Volkslieder, da wurde mir vollends grün vor
den Augen. „Kennen Sie das?" fragte sie mich, und in ihrem Gesicht lag
die feste Zuversicht, daß das Neinsageu diesmal auf meiner Seite sein würde.
Ich machte denn auch keine vergeblichen Versuche, die Lückenhaftigkeit meiner
Kenntniß in diesem Falle zu bemänteln, sondern fragte nur mit möglichster
Gleichgiltigkeit dagegen: „Gewiß ein Geschenk Ihrer trefflichen pädagogischen
Freundin in Edinburgh?" — „Ein Geschenk allerdings, mitsammt dem
schönen Bande, den hiesige Bnchbinderkunst schwerlich zu Stande gebracht hätte,
aber nicht aus Edinburgh, sondern aus Ihrer höchst musikalischen Metropole,
Verehrtester Herr Doktor. Dort sind die Lieder gedruckt, dort sind sie erschienen,
und von dort sind sie mir zugekommen. Im Ernste, kennen Sie sie nicht?" —
Ich mußte nochmals verneinen, und indem ich mir den Band ausbat und nun beim
Blättern die Titel von mindestens einem Dutzend verschiedener Liederhefte mit
etwa 200 Liedern mir an den Augen vorüberschwirrten, suchte ich durch einige zwei¬
felnde Fragen meiner Unkenntniß eine gewisse Berechtigung zu verleihen.
„Tangen die Lieder wirklich etwas? Sind sie für deutsche Ohren genießbar?" —
„Die Antwort können Sie sich leicht selber geben. Haben Sie jemals etwas


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157661/384>, abgerufen am 22.07.2024.