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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band.

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jungen, jeder einen eben empfangenen Penny zwischen den Zähnen, der eine
den Standard, der andere den Daily Telegraph in der ausgestreckten Hand,
kommen eiligen Laufes herbeigestürzt. Jeder schreit: .7 aro. tirst, Ar! Es ist
kein Relief, sondern eine bis in's kleinste Detail ausgearbeitete Freigruppe
in lebensgroßen Figuren. Englische Wahrheit vereinigt sich hier mit italienischer
Kühnheit. Es herrscht ein Leben, eine Bewegung, eine Energie in dieser
Gruppe, wie sie die genialen, flotten Zeichnungen des Londoner Punch erfüllt.

Einen ganz ähnlichen Charakter zeigen zwei Gruppen des Florentiner's
Aimenes: zwei Straßenjungen, die beim Ballspiel mit einander in Streit ge¬
rathen sind und sich auf das Wüthendste raufen, -- der eine drückt den andern
gegen eine Mauer -- und ein junger Akrobat, der auf einer Kugel balancirt,
die sich eine schiefe Ebene hinabbewegt. Mit den Gesetzen plastischer Schönheit
und Ruhe darf man natürlich an solche Gruppen nicht herantreten. Man
findet nicht eine einzige ruhige Linie, nicht eine, die nicht von der andern
rücksichtslos durchschnitten wird. Es wird auch nicht an Leuten fehlen, die
diese Spiegelbilder des realen Lebens abscheulich finden. Aber sie bezeichnen
immerhin einen Fortschritt der plastischen Kunst, vielleicht sogar schon die
Grenze dessen, was überhaupt noch erreicht werden kann.

Auf fremdem Boden ist auch das originellste Talent erwachsen, dem wir
innerhalb der italienischen Malerei begegnen, oder es hat doch wenigstens
aus fremdem Boden die Inspirationen für ein Bild geschöpft, das um seiner
pikanten, geistvollen Originalität willen zu den interessantesten der Weltaus¬
stellung gehört. Es scheint als hätte der Maler, F. P. Michetti, den japanischen
Lackmalern ihre koloristischen Reize abgelauscht und versucht, den barocken
Schematismus dieser genial komponirendeu Künstler in eine freie Natürlich¬
keit zu übersetzen. Er nenut sein Bild: vera von mnorö, weil es die
Frühlingsluft junger Menschenkinder darstellt. Man sieht einen Hügel am
Gestade des tiefblauen Meeres, aus dessen braunem Erdreich eben das erste
Gras gesprossen ist. Im Mittelgrunde, unterhalb des Hügels, werden die
weißbliukendeu Zinnen und Mauern einer Stadt von asiatischem Charakter
sichtbar, und weiter begrenzt den Horizont das von einigen weißen Segeln be¬
lebte Meer, über das sich ein lichtblauer Himmel spaunt. Auf dem Hügel
tummelt sich eine lustige Gesellschaft von Kindern und jungen Mädchen, die
in übersprudelnder Lustigkeit ihre Oberkleider abgeworfen haben und nun herum-
springen, singen und tanzen. Einige sind auf einen rothblühenden Mandel-
bcinm geklettert und wiegen sich in den Aesten. Andere wälzen sich mit
Kindern auf einer Decke herum, die inmitten des Hügels ausgebreitet ist.
Eines der Mädchen liegt in süßer Ruhe unter einem Baume, dessen noch
blätterlose Aeste ihre Schatten auf den reizend modellirten, nackten Oberkörper


jungen, jeder einen eben empfangenen Penny zwischen den Zähnen, der eine
den Standard, der andere den Daily Telegraph in der ausgestreckten Hand,
kommen eiligen Laufes herbeigestürzt. Jeder schreit: .7 aro. tirst, Ar! Es ist
kein Relief, sondern eine bis in's kleinste Detail ausgearbeitete Freigruppe
in lebensgroßen Figuren. Englische Wahrheit vereinigt sich hier mit italienischer
Kühnheit. Es herrscht ein Leben, eine Bewegung, eine Energie in dieser
Gruppe, wie sie die genialen, flotten Zeichnungen des Londoner Punch erfüllt.

Einen ganz ähnlichen Charakter zeigen zwei Gruppen des Florentiner's
Aimenes: zwei Straßenjungen, die beim Ballspiel mit einander in Streit ge¬
rathen sind und sich auf das Wüthendste raufen, — der eine drückt den andern
gegen eine Mauer — und ein junger Akrobat, der auf einer Kugel balancirt,
die sich eine schiefe Ebene hinabbewegt. Mit den Gesetzen plastischer Schönheit
und Ruhe darf man natürlich an solche Gruppen nicht herantreten. Man
findet nicht eine einzige ruhige Linie, nicht eine, die nicht von der andern
rücksichtslos durchschnitten wird. Es wird auch nicht an Leuten fehlen, die
diese Spiegelbilder des realen Lebens abscheulich finden. Aber sie bezeichnen
immerhin einen Fortschritt der plastischen Kunst, vielleicht sogar schon die
Grenze dessen, was überhaupt noch erreicht werden kann.

Auf fremdem Boden ist auch das originellste Talent erwachsen, dem wir
innerhalb der italienischen Malerei begegnen, oder es hat doch wenigstens
aus fremdem Boden die Inspirationen für ein Bild geschöpft, das um seiner
pikanten, geistvollen Originalität willen zu den interessantesten der Weltaus¬
stellung gehört. Es scheint als hätte der Maler, F. P. Michetti, den japanischen
Lackmalern ihre koloristischen Reize abgelauscht und versucht, den barocken
Schematismus dieser genial komponirendeu Künstler in eine freie Natürlich¬
keit zu übersetzen. Er nenut sein Bild: vera von mnorö, weil es die
Frühlingsluft junger Menschenkinder darstellt. Man sieht einen Hügel am
Gestade des tiefblauen Meeres, aus dessen braunem Erdreich eben das erste
Gras gesprossen ist. Im Mittelgrunde, unterhalb des Hügels, werden die
weißbliukendeu Zinnen und Mauern einer Stadt von asiatischem Charakter
sichtbar, und weiter begrenzt den Horizont das von einigen weißen Segeln be¬
lebte Meer, über das sich ein lichtblauer Himmel spaunt. Auf dem Hügel
tummelt sich eine lustige Gesellschaft von Kindern und jungen Mädchen, die
in übersprudelnder Lustigkeit ihre Oberkleider abgeworfen haben und nun herum-
springen, singen und tanzen. Einige sind auf einen rothblühenden Mandel-
bcinm geklettert und wiegen sich in den Aesten. Andere wälzen sich mit
Kindern auf einer Decke herum, die inmitten des Hügels ausgebreitet ist.
Eines der Mädchen liegt in süßer Ruhe unter einem Baume, dessen noch
blätterlose Aeste ihre Schatten auf den reizend modellirten, nackten Oberkörper


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157661/373>, abgerufen am 22.07.2024.