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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band.

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die von allen Marmorarbeitern Italien's mit ziemlich gleichem Geschick geübt
wird. In der Durchbildung des Nackten ist ein ziemlich strenger Idealismus
maßgebend, während in allem Stofflichen und Unorganischen der raffinirteste
Realismus herrscht. Haare und Augenbrauen, Spitzen, seidene Gewänder,
Ketten und Ohrringe, Schuhe und Strümpfe werden mit einem Verständniß
in Marmor nachgebildet, das auch dem entschiedensten Gegner der italienischen
Nippesfiguren laute Bewunderung ablockt. Da ist ein niedlicher Debardeur
von Ambrogi, der schelmisch lächelnd seine Maske lüftet. Die Hacken der zier¬
lichen Stiefletten sind spiegelblank polirt, dann kommt das stumpfe Leder, der
gerippte Strumpf, der Atlas des Höschens und die Spitzen, die das sammetne
Wamms umsäumen. Alles ist verschiedenartig behandelt und so scharf charak-
terisirt, daß man über die Art eines jeden Stoffes nicht im Zweifel sein kann.
Ferner betrachte man genauer eine nackte Frau, der ein Knabe einen Spiegel
vorhält. Sie hat eine schöne Kette um den Hals und den Busen gelegt und
blickt prüfend in den Spiegel. Die reich gegliederte Kette, die nur leicht auf
dem Busen anfliegt, ist vollkommen frei, mit dem Körper aus demselben Stücke
gearbeitet und auf das sauberste polirt, um deu Kontrast zwischeu Körper und
Kette zu verschärfen.

Es gibt fast nichts mehr ans der Welt, was der italienische Bildhauer
uicht in Bronze, Marmor und Thon zu imitiren sucht und versteht. Man
kann sich schwerlich einen Gegenstand denken, welcher der plastischen Kunst mehr
widerstrebt als der Regenschirm. Der Italiener ist anderer Meinung. Er
formt zum Schmucke einer Fontäne eine Kindergruppe, die sich vor dem herab¬
fallenden Wasser unter einem anfgespmmten Regenschirme schützt, es gelingt ihm
diese Gruppe in Thon zu brennen, und der Regenschirm ist fortan für die
Plastik erobert.

Einen ganz andern Weg, als die Mehrzahl seiner Landsleute, hat Focardi
eingeschlagen, ein in London ansässiger Bildhauer und ohne Zweifel das ori¬
ginellste Talent unter den Italienern. Er hat die Handfertigkeit seiner Heimats¬
genossen dem englischen Realismus dienstbar gemacht und so Gruppen geschaffen,
denen an sprühender Lebendigkeit und Kühnheit nichts in den plastischen Ab¬
theilungen der Weltausstellung an die Seite zu setzen ist. Im Gegensatz zu
seinen Landsleuten kultivirt Foeardi mit Vorliebe das niedrige, derbkvmische
Genre. Er bildet keine Nymphen und Amoretten, sondern entnimmt seine
Stoffe dem englischen Familien- und Straßenleben. Da ist ein Arbeiter, der
heimkehrt und sein Baby herze und küßt, dort eine alte Fran, die einen sich
kräftig sträubenden Jungen mit dem Badeschwamm traktirt. An Lebendigkeit
werden diese beiden Gruppen noch durch eine dritte übertroffen, von der man
sagen kann, ihres Gleichen sei noch nicht dagewesen. Zwei zerlumpte Zeitungs-


die von allen Marmorarbeitern Italien's mit ziemlich gleichem Geschick geübt
wird. In der Durchbildung des Nackten ist ein ziemlich strenger Idealismus
maßgebend, während in allem Stofflichen und Unorganischen der raffinirteste
Realismus herrscht. Haare und Augenbrauen, Spitzen, seidene Gewänder,
Ketten und Ohrringe, Schuhe und Strümpfe werden mit einem Verständniß
in Marmor nachgebildet, das auch dem entschiedensten Gegner der italienischen
Nippesfiguren laute Bewunderung ablockt. Da ist ein niedlicher Debardeur
von Ambrogi, der schelmisch lächelnd seine Maske lüftet. Die Hacken der zier¬
lichen Stiefletten sind spiegelblank polirt, dann kommt das stumpfe Leder, der
gerippte Strumpf, der Atlas des Höschens und die Spitzen, die das sammetne
Wamms umsäumen. Alles ist verschiedenartig behandelt und so scharf charak-
terisirt, daß man über die Art eines jeden Stoffes nicht im Zweifel sein kann.
Ferner betrachte man genauer eine nackte Frau, der ein Knabe einen Spiegel
vorhält. Sie hat eine schöne Kette um den Hals und den Busen gelegt und
blickt prüfend in den Spiegel. Die reich gegliederte Kette, die nur leicht auf
dem Busen anfliegt, ist vollkommen frei, mit dem Körper aus demselben Stücke
gearbeitet und auf das sauberste polirt, um deu Kontrast zwischeu Körper und
Kette zu verschärfen.

Es gibt fast nichts mehr ans der Welt, was der italienische Bildhauer
uicht in Bronze, Marmor und Thon zu imitiren sucht und versteht. Man
kann sich schwerlich einen Gegenstand denken, welcher der plastischen Kunst mehr
widerstrebt als der Regenschirm. Der Italiener ist anderer Meinung. Er
formt zum Schmucke einer Fontäne eine Kindergruppe, die sich vor dem herab¬
fallenden Wasser unter einem anfgespmmten Regenschirme schützt, es gelingt ihm
diese Gruppe in Thon zu brennen, und der Regenschirm ist fortan für die
Plastik erobert.

Einen ganz andern Weg, als die Mehrzahl seiner Landsleute, hat Focardi
eingeschlagen, ein in London ansässiger Bildhauer und ohne Zweifel das ori¬
ginellste Talent unter den Italienern. Er hat die Handfertigkeit seiner Heimats¬
genossen dem englischen Realismus dienstbar gemacht und so Gruppen geschaffen,
denen an sprühender Lebendigkeit und Kühnheit nichts in den plastischen Ab¬
theilungen der Weltausstellung an die Seite zu setzen ist. Im Gegensatz zu
seinen Landsleuten kultivirt Foeardi mit Vorliebe das niedrige, derbkvmische
Genre. Er bildet keine Nymphen und Amoretten, sondern entnimmt seine
Stoffe dem englischen Familien- und Straßenleben. Da ist ein Arbeiter, der
heimkehrt und sein Baby herze und küßt, dort eine alte Fran, die einen sich
kräftig sträubenden Jungen mit dem Badeschwamm traktirt. An Lebendigkeit
werden diese beiden Gruppen noch durch eine dritte übertroffen, von der man
sagen kann, ihres Gleichen sei noch nicht dagewesen. Zwei zerlumpte Zeitungs-


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[0372] die von allen Marmorarbeitern Italien's mit ziemlich gleichem Geschick geübt wird. In der Durchbildung des Nackten ist ein ziemlich strenger Idealismus maßgebend, während in allem Stofflichen und Unorganischen der raffinirteste Realismus herrscht. Haare und Augenbrauen, Spitzen, seidene Gewänder, Ketten und Ohrringe, Schuhe und Strümpfe werden mit einem Verständniß in Marmor nachgebildet, das auch dem entschiedensten Gegner der italienischen Nippesfiguren laute Bewunderung ablockt. Da ist ein niedlicher Debardeur von Ambrogi, der schelmisch lächelnd seine Maske lüftet. Die Hacken der zier¬ lichen Stiefletten sind spiegelblank polirt, dann kommt das stumpfe Leder, der gerippte Strumpf, der Atlas des Höschens und die Spitzen, die das sammetne Wamms umsäumen. Alles ist verschiedenartig behandelt und so scharf charak- terisirt, daß man über die Art eines jeden Stoffes nicht im Zweifel sein kann. Ferner betrachte man genauer eine nackte Frau, der ein Knabe einen Spiegel vorhält. Sie hat eine schöne Kette um den Hals und den Busen gelegt und blickt prüfend in den Spiegel. Die reich gegliederte Kette, die nur leicht auf dem Busen anfliegt, ist vollkommen frei, mit dem Körper aus demselben Stücke gearbeitet und auf das sauberste polirt, um deu Kontrast zwischeu Körper und Kette zu verschärfen. Es gibt fast nichts mehr ans der Welt, was der italienische Bildhauer uicht in Bronze, Marmor und Thon zu imitiren sucht und versteht. Man kann sich schwerlich einen Gegenstand denken, welcher der plastischen Kunst mehr widerstrebt als der Regenschirm. Der Italiener ist anderer Meinung. Er formt zum Schmucke einer Fontäne eine Kindergruppe, die sich vor dem herab¬ fallenden Wasser unter einem anfgespmmten Regenschirme schützt, es gelingt ihm diese Gruppe in Thon zu brennen, und der Regenschirm ist fortan für die Plastik erobert. Einen ganz andern Weg, als die Mehrzahl seiner Landsleute, hat Focardi eingeschlagen, ein in London ansässiger Bildhauer und ohne Zweifel das ori¬ ginellste Talent unter den Italienern. Er hat die Handfertigkeit seiner Heimats¬ genossen dem englischen Realismus dienstbar gemacht und so Gruppen geschaffen, denen an sprühender Lebendigkeit und Kühnheit nichts in den plastischen Ab¬ theilungen der Weltausstellung an die Seite zu setzen ist. Im Gegensatz zu seinen Landsleuten kultivirt Foeardi mit Vorliebe das niedrige, derbkvmische Genre. Er bildet keine Nymphen und Amoretten, sondern entnimmt seine Stoffe dem englischen Familien- und Straßenleben. Da ist ein Arbeiter, der heimkehrt und sein Baby herze und küßt, dort eine alte Fran, die einen sich kräftig sträubenden Jungen mit dem Badeschwamm traktirt. An Lebendigkeit werden diese beiden Gruppen noch durch eine dritte übertroffen, von der man sagen kann, ihres Gleichen sei noch nicht dagewesen. Zwei zerlumpte Zeitungs-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157661/372>, abgerufen am 22.07.2024.