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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band.

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Um sein Bild, welches diesem traurigen Stoffe gewidmet ist, -- es ist die
zweite seiner größeren Kompositionen auf der Ausstellung -- verstehen zu können,
müssen wir etwas weiter ausholen. Ohne Kommentar sind die meisten
Schöpfungen der modernen Historienmalerei Frankreich's absolut unverständlich.
Der dirigireude Arzt des Pariser Jrreuhanses, der salpetrige, Pinel (1795),
protestirte als der erste energisch gegen die grausame Behandlung der Wahn¬
sinnigen. Er machte sich die allgemeine revolutionäre Bewegung zu Nutze und
setzte es durch, daß den armen Irren die Ketten und Fußblöcke, mit denen sie
gefesselt waren, abgenommen und daß sie fortan nach den Gesetzen der Huma¬
nität behandelt wurden. Robert-Fleury's Bild stellt den edlen Wohlthäter dar,
wie er in den Hof des Irrenhauses tritt und den Befehl giebt, den Irren die
eisernen Ketten abzunehmen. Einige, die schon befreit sind, drängen sich um
ihn und küssen instinktiv seine Hände. Andere, Männer und Frauen, wälzen
sich noch, halb von Kleidern entblößt, die sie sich vom Leibe abgerissen haben,
in ihren Ketten auf dem Boden herum. Wir begegnen hier wiederum der un-
seligen Vorliebe für das Gräßliche, die wir schon früher als charakteristisch für
die französischen Maler geschildert haben. Denn nicht Pinel ist der Mittel¬
punkt des Bildes, sondern das Häuflein Wahnsinniger, diese entfleischten Ge¬
stalten mit den glanzlosen, stieren Augen und den grauenhaft, verzerrten Ge¬
sichtern, die sich in schrecklichen Konvulsionen bemühen, ihre Ketten zu zerreißen
und von den Fußblöcken loszukommen.

Nächst Bonnae verdient Bonguereau als Portraitmaler eine ehrenvolle
Erwähnung. Ist sein Fleischton auch von einer eigenthümlichen, elfenbein-
artigen Kälte, die, wie ein Vergleich mit seinen anderen Bildern zeigt, beab¬
sichtigt ist, so kommt doch auch durch thu der geistige Ausdruck der Physiognomie
zur Geltung. Er mahnt in seiner sorgfältigen Modellirung und minutiösen
Durchbildung des Angesichts und in dem erwähnten, elfenbeinfarbenen Tone
an einen sehr geschätzten deutschen Maler des vorigen Jahrhunderts, an Bal-
thasar Denner. Bouguereau's Stärke liegt jedoch in seinen religiösen Bildern,
die sich einer großen Beliebtheit erfreuen. Eine Madonna mit dem Leichnam
Christi im Schooße und eine Uarig, ec>n8olAtrix sind die besten unter ihnen.
Mit großer Virtuosität und mit großem Farbenanfwand gemalt, mit bewun¬
derungswürdiger Korrektheit gezeichnet und modellirt, vermögen sie doch nicht
eine nachhaltige Wirkung zu erzielen. Es fehlt ihnen die Wärme des Gefühls,
die Innigkeit, welche die religiösen Bilder auszuströmen pflegen, denen man in
Deutschland Verehrung zollt.

Auch nur um des trefflichen Modellstudiums wegen fand ein todter Christus
von Hemmer auf dem "Salon" von 1876 lebhafte Bewunderung. Auf dem
Marsfelde verschwindet er unter der Menge von Aktstudien, welche die fran-


Ärenzbvte" III. 1878. 44

Um sein Bild, welches diesem traurigen Stoffe gewidmet ist, — es ist die
zweite seiner größeren Kompositionen auf der Ausstellung — verstehen zu können,
müssen wir etwas weiter ausholen. Ohne Kommentar sind die meisten
Schöpfungen der modernen Historienmalerei Frankreich's absolut unverständlich.
Der dirigireude Arzt des Pariser Jrreuhanses, der salpetrige, Pinel (1795),
protestirte als der erste energisch gegen die grausame Behandlung der Wahn¬
sinnigen. Er machte sich die allgemeine revolutionäre Bewegung zu Nutze und
setzte es durch, daß den armen Irren die Ketten und Fußblöcke, mit denen sie
gefesselt waren, abgenommen und daß sie fortan nach den Gesetzen der Huma¬
nität behandelt wurden. Robert-Fleury's Bild stellt den edlen Wohlthäter dar,
wie er in den Hof des Irrenhauses tritt und den Befehl giebt, den Irren die
eisernen Ketten abzunehmen. Einige, die schon befreit sind, drängen sich um
ihn und küssen instinktiv seine Hände. Andere, Männer und Frauen, wälzen
sich noch, halb von Kleidern entblößt, die sie sich vom Leibe abgerissen haben,
in ihren Ketten auf dem Boden herum. Wir begegnen hier wiederum der un-
seligen Vorliebe für das Gräßliche, die wir schon früher als charakteristisch für
die französischen Maler geschildert haben. Denn nicht Pinel ist der Mittel¬
punkt des Bildes, sondern das Häuflein Wahnsinniger, diese entfleischten Ge¬
stalten mit den glanzlosen, stieren Augen und den grauenhaft, verzerrten Ge¬
sichtern, die sich in schrecklichen Konvulsionen bemühen, ihre Ketten zu zerreißen
und von den Fußblöcken loszukommen.

Nächst Bonnae verdient Bonguereau als Portraitmaler eine ehrenvolle
Erwähnung. Ist sein Fleischton auch von einer eigenthümlichen, elfenbein-
artigen Kälte, die, wie ein Vergleich mit seinen anderen Bildern zeigt, beab¬
sichtigt ist, so kommt doch auch durch thu der geistige Ausdruck der Physiognomie
zur Geltung. Er mahnt in seiner sorgfältigen Modellirung und minutiösen
Durchbildung des Angesichts und in dem erwähnten, elfenbeinfarbenen Tone
an einen sehr geschätzten deutschen Maler des vorigen Jahrhunderts, an Bal-
thasar Denner. Bouguereau's Stärke liegt jedoch in seinen religiösen Bildern,
die sich einer großen Beliebtheit erfreuen. Eine Madonna mit dem Leichnam
Christi im Schooße und eine Uarig, ec>n8olAtrix sind die besten unter ihnen.
Mit großer Virtuosität und mit großem Farbenanfwand gemalt, mit bewun¬
derungswürdiger Korrektheit gezeichnet und modellirt, vermögen sie doch nicht
eine nachhaltige Wirkung zu erzielen. Es fehlt ihnen die Wärme des Gefühls,
die Innigkeit, welche die religiösen Bilder auszuströmen pflegen, denen man in
Deutschland Verehrung zollt.

Auch nur um des trefflichen Modellstudiums wegen fand ein todter Christus
von Hemmer auf dem „Salon" von 1876 lebhafte Bewunderung. Auf dem
Marsfelde verschwindet er unter der Menge von Aktstudien, welche die fran-


Ärenzbvte» III. 1878. 44
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[0353] Um sein Bild, welches diesem traurigen Stoffe gewidmet ist, — es ist die zweite seiner größeren Kompositionen auf der Ausstellung — verstehen zu können, müssen wir etwas weiter ausholen. Ohne Kommentar sind die meisten Schöpfungen der modernen Historienmalerei Frankreich's absolut unverständlich. Der dirigireude Arzt des Pariser Jrreuhanses, der salpetrige, Pinel (1795), protestirte als der erste energisch gegen die grausame Behandlung der Wahn¬ sinnigen. Er machte sich die allgemeine revolutionäre Bewegung zu Nutze und setzte es durch, daß den armen Irren die Ketten und Fußblöcke, mit denen sie gefesselt waren, abgenommen und daß sie fortan nach den Gesetzen der Huma¬ nität behandelt wurden. Robert-Fleury's Bild stellt den edlen Wohlthäter dar, wie er in den Hof des Irrenhauses tritt und den Befehl giebt, den Irren die eisernen Ketten abzunehmen. Einige, die schon befreit sind, drängen sich um ihn und küssen instinktiv seine Hände. Andere, Männer und Frauen, wälzen sich noch, halb von Kleidern entblößt, die sie sich vom Leibe abgerissen haben, in ihren Ketten auf dem Boden herum. Wir begegnen hier wiederum der un- seligen Vorliebe für das Gräßliche, die wir schon früher als charakteristisch für die französischen Maler geschildert haben. Denn nicht Pinel ist der Mittel¬ punkt des Bildes, sondern das Häuflein Wahnsinniger, diese entfleischten Ge¬ stalten mit den glanzlosen, stieren Augen und den grauenhaft, verzerrten Ge¬ sichtern, die sich in schrecklichen Konvulsionen bemühen, ihre Ketten zu zerreißen und von den Fußblöcken loszukommen. Nächst Bonnae verdient Bonguereau als Portraitmaler eine ehrenvolle Erwähnung. Ist sein Fleischton auch von einer eigenthümlichen, elfenbein- artigen Kälte, die, wie ein Vergleich mit seinen anderen Bildern zeigt, beab¬ sichtigt ist, so kommt doch auch durch thu der geistige Ausdruck der Physiognomie zur Geltung. Er mahnt in seiner sorgfältigen Modellirung und minutiösen Durchbildung des Angesichts und in dem erwähnten, elfenbeinfarbenen Tone an einen sehr geschätzten deutschen Maler des vorigen Jahrhunderts, an Bal- thasar Denner. Bouguereau's Stärke liegt jedoch in seinen religiösen Bildern, die sich einer großen Beliebtheit erfreuen. Eine Madonna mit dem Leichnam Christi im Schooße und eine Uarig, ec>n8olAtrix sind die besten unter ihnen. Mit großer Virtuosität und mit großem Farbenanfwand gemalt, mit bewun¬ derungswürdiger Korrektheit gezeichnet und modellirt, vermögen sie doch nicht eine nachhaltige Wirkung zu erzielen. Es fehlt ihnen die Wärme des Gefühls, die Innigkeit, welche die religiösen Bilder auszuströmen pflegen, denen man in Deutschland Verehrung zollt. Auch nur um des trefflichen Modellstudiums wegen fand ein todter Christus von Hemmer auf dem „Salon" von 1876 lebhafte Bewunderung. Auf dem Marsfelde verschwindet er unter der Menge von Aktstudien, welche die fran- Ärenzbvte» III. 1878. 44

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157661/353>, abgerufen am 22.07.2024.