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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band.

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Studienzeit die übliche Bildungsreise antreten sollten, brachte er innerhalb eines
Semesters zu Ende, obgleich er dabei den Studenten seine vielseitigen Kunst¬
sammlungen zur Ansicht vorlegte. Das Heft dieser privaten Vorlesung war
sehr gesucht, wurde fleißig vervielfältigt und sogar wiederholt ohne seinen Willen,
und noch dazu verstümmelt, gedruckt. Sonst war sein Vortrag, wie ein Zeitge¬
nosse berichtet, einfach und frei von aller Effekthascherei. Bald trug er deutsch,
bald lateinisch vor, je nachdem das eine oder andere für die zu erklärende
Stelle ihm passender schien. Die Auzahl seiner Zuhörer war in der Regel
ziemlich groß, wenn auch in späteren Jahren Ernesti ihm Abbruch that.

Die eigentliche Bedeutung Christ's beruht zunächst in seiner geistvolleren Auf¬
fassung und Behandlung der Alterthumswissenschaft, sodann aber vor Allem darin,
daß er die Grenzen derselben weiter steckte und die antike Kunst als solche
zuerst in ihr Gebiet hereinzog. Bis tief in die zweite Hälfte des vorigen
Jahrhunderts hinein stand die philologische Wissenschaft im Allgemeinen noch
ziemlich auf demselben Standpunkte, wie am Ende des 17. Jahrhunderts.
Der Hauptzweck der philologischen Studien blieb auf das Formelle beschränkt.
Lateinisch schreiben und sprechen zu lernen, das war und blieb die Hauptsache, die
Erforschung des sachlichen wurde zwar auch, aber doch nur von dem beschränkten
Gesichtspunkte der PolyHistorie aus betrieben. Nur selten und ausnahmsweise
gingen bereits Anfang und Mitte des vorigen Jahrhunderts Grammatik und
Kritik ebensowohl wie die Auslegung der Realien darauf aus, einen tieferen
Einblick in das gesammte antike Leben und in die Geschichte der alten Völker
zu erschließen, mit einem Worte die Philologie zu dem zu machen, was sie
ihrer höchsten Auffassung, uach sein kann und soll, zur Geschichte. Die drei
ersten Vertreter dieser Auffassung, die in der Geschichte der Alterthumswissen-
schaft in Deutschland bahnbrechend waren, sind Johann Matthias Gesner,
Johann August Ernesti und -- Johann Friedrich Christ. Aber der letztere über¬
ragt in der Betonung der sachlichen Erkenntniß des Alterthums noch seine
beiden Zeitgenossen, vor Allem aber darin, daß er das Studium der Kunst
als einen nothwendigen Bestandtheil zur historisch-philologischen Wissenschaft
hinzunahm. Christ's dauerndes Verdienst besteht darin, daß er den ersten
Grund zu einer wissenschaftlichen Behandlung der antiken Kunst legte. Er hat
die alte Kunst zuerst, indem er sie von den übrigen Antiquitäten abtrennte, in
den Kreis der Universitätsvorlesungen eingeführt.

Jahrzehnte lang haben die Anregungen, die Christ hierdurch gegeben, nach¬
gewirkt. Den Spuren Christ's begegnet man unablässig in der deutschen Kunst-
schriftstellerei aus der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhundert's. Der junge
Goethe hörte ihn als Leipziger Student aus Oeser's Munde preisen, wie er
in "Dichtung und Wahrheit" erzählt; Heyne bekannte dankbar, daß Christ


Studienzeit die übliche Bildungsreise antreten sollten, brachte er innerhalb eines
Semesters zu Ende, obgleich er dabei den Studenten seine vielseitigen Kunst¬
sammlungen zur Ansicht vorlegte. Das Heft dieser privaten Vorlesung war
sehr gesucht, wurde fleißig vervielfältigt und sogar wiederholt ohne seinen Willen,
und noch dazu verstümmelt, gedruckt. Sonst war sein Vortrag, wie ein Zeitge¬
nosse berichtet, einfach und frei von aller Effekthascherei. Bald trug er deutsch,
bald lateinisch vor, je nachdem das eine oder andere für die zu erklärende
Stelle ihm passender schien. Die Auzahl seiner Zuhörer war in der Regel
ziemlich groß, wenn auch in späteren Jahren Ernesti ihm Abbruch that.

Die eigentliche Bedeutung Christ's beruht zunächst in seiner geistvolleren Auf¬
fassung und Behandlung der Alterthumswissenschaft, sodann aber vor Allem darin,
daß er die Grenzen derselben weiter steckte und die antike Kunst als solche
zuerst in ihr Gebiet hereinzog. Bis tief in die zweite Hälfte des vorigen
Jahrhunderts hinein stand die philologische Wissenschaft im Allgemeinen noch
ziemlich auf demselben Standpunkte, wie am Ende des 17. Jahrhunderts.
Der Hauptzweck der philologischen Studien blieb auf das Formelle beschränkt.
Lateinisch schreiben und sprechen zu lernen, das war und blieb die Hauptsache, die
Erforschung des sachlichen wurde zwar auch, aber doch nur von dem beschränkten
Gesichtspunkte der PolyHistorie aus betrieben. Nur selten und ausnahmsweise
gingen bereits Anfang und Mitte des vorigen Jahrhunderts Grammatik und
Kritik ebensowohl wie die Auslegung der Realien darauf aus, einen tieferen
Einblick in das gesammte antike Leben und in die Geschichte der alten Völker
zu erschließen, mit einem Worte die Philologie zu dem zu machen, was sie
ihrer höchsten Auffassung, uach sein kann und soll, zur Geschichte. Die drei
ersten Vertreter dieser Auffassung, die in der Geschichte der Alterthumswissen-
schaft in Deutschland bahnbrechend waren, sind Johann Matthias Gesner,
Johann August Ernesti und — Johann Friedrich Christ. Aber der letztere über¬
ragt in der Betonung der sachlichen Erkenntniß des Alterthums noch seine
beiden Zeitgenossen, vor Allem aber darin, daß er das Studium der Kunst
als einen nothwendigen Bestandtheil zur historisch-philologischen Wissenschaft
hinzunahm. Christ's dauerndes Verdienst besteht darin, daß er den ersten
Grund zu einer wissenschaftlichen Behandlung der antiken Kunst legte. Er hat
die alte Kunst zuerst, indem er sie von den übrigen Antiquitäten abtrennte, in
den Kreis der Universitätsvorlesungen eingeführt.

Jahrzehnte lang haben die Anregungen, die Christ hierdurch gegeben, nach¬
gewirkt. Den Spuren Christ's begegnet man unablässig in der deutschen Kunst-
schriftstellerei aus der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhundert's. Der junge
Goethe hörte ihn als Leipziger Student aus Oeser's Munde preisen, wie er
in „Dichtung und Wahrheit" erzählt; Heyne bekannte dankbar, daß Christ


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[0346] Studienzeit die übliche Bildungsreise antreten sollten, brachte er innerhalb eines Semesters zu Ende, obgleich er dabei den Studenten seine vielseitigen Kunst¬ sammlungen zur Ansicht vorlegte. Das Heft dieser privaten Vorlesung war sehr gesucht, wurde fleißig vervielfältigt und sogar wiederholt ohne seinen Willen, und noch dazu verstümmelt, gedruckt. Sonst war sein Vortrag, wie ein Zeitge¬ nosse berichtet, einfach und frei von aller Effekthascherei. Bald trug er deutsch, bald lateinisch vor, je nachdem das eine oder andere für die zu erklärende Stelle ihm passender schien. Die Auzahl seiner Zuhörer war in der Regel ziemlich groß, wenn auch in späteren Jahren Ernesti ihm Abbruch that. Die eigentliche Bedeutung Christ's beruht zunächst in seiner geistvolleren Auf¬ fassung und Behandlung der Alterthumswissenschaft, sodann aber vor Allem darin, daß er die Grenzen derselben weiter steckte und die antike Kunst als solche zuerst in ihr Gebiet hereinzog. Bis tief in die zweite Hälfte des vorigen Jahrhunderts hinein stand die philologische Wissenschaft im Allgemeinen noch ziemlich auf demselben Standpunkte, wie am Ende des 17. Jahrhunderts. Der Hauptzweck der philologischen Studien blieb auf das Formelle beschränkt. Lateinisch schreiben und sprechen zu lernen, das war und blieb die Hauptsache, die Erforschung des sachlichen wurde zwar auch, aber doch nur von dem beschränkten Gesichtspunkte der PolyHistorie aus betrieben. Nur selten und ausnahmsweise gingen bereits Anfang und Mitte des vorigen Jahrhunderts Grammatik und Kritik ebensowohl wie die Auslegung der Realien darauf aus, einen tieferen Einblick in das gesammte antike Leben und in die Geschichte der alten Völker zu erschließen, mit einem Worte die Philologie zu dem zu machen, was sie ihrer höchsten Auffassung, uach sein kann und soll, zur Geschichte. Die drei ersten Vertreter dieser Auffassung, die in der Geschichte der Alterthumswissen- schaft in Deutschland bahnbrechend waren, sind Johann Matthias Gesner, Johann August Ernesti und — Johann Friedrich Christ. Aber der letztere über¬ ragt in der Betonung der sachlichen Erkenntniß des Alterthums noch seine beiden Zeitgenossen, vor Allem aber darin, daß er das Studium der Kunst als einen nothwendigen Bestandtheil zur historisch-philologischen Wissenschaft hinzunahm. Christ's dauerndes Verdienst besteht darin, daß er den ersten Grund zu einer wissenschaftlichen Behandlung der antiken Kunst legte. Er hat die alte Kunst zuerst, indem er sie von den übrigen Antiquitäten abtrennte, in den Kreis der Universitätsvorlesungen eingeführt. Jahrzehnte lang haben die Anregungen, die Christ hierdurch gegeben, nach¬ gewirkt. Den Spuren Christ's begegnet man unablässig in der deutschen Kunst- schriftstellerei aus der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhundert's. Der junge Goethe hörte ihn als Leipziger Student aus Oeser's Munde preisen, wie er in „Dichtung und Wahrheit" erzählt; Heyne bekannte dankbar, daß Christ

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157661/346>, abgerufen am 22.07.2024.