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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band.

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Macchiavell und des Agrippci von Nettesheim u. s. w. Und dies gelehrte
Potpourri steht nicht vereinzelt unter seinen Schriften da.

Hier eine Uebersicht seiner schriftstellerischen Thätigkeit zu geben, würde
ein Ding der Unmöglichkeit sein; sie bewegte sich auf zu verschiedenartigen
Gebieten, und bleibendes hat er nirgends geschaffen. Fast ausschließlich schrieb
er übrigens lateinisch, selten und ungern deutsch. Er verachtete das Deutsch
seinerZeit als eine heruntergekommene Sprache, die sich von der Vollkommenheit, mit
der Luther sie einst gehandhabt, weit entfernt habe. Aber wiewohl er das Uebel
richtig erkannte, fühlte er sich doch nicht berufen, zur Heilung desselben bei¬
zutragen. Sein Latein ist im hohen Grade elegant geschrieben, aber ähnlich
wie noch bei manchen Philologen aus unserer Zeit, die der Schrulle nachhängen
ihre Schriften lateinisch zu schreiben, verbrämt mit seltenen Worten oder seltenen
Wortbedeutungen. Seine zahlreichen lateinischen Dichtungen, wie er sie namentlich
als xrotössor xosssos in akademischen Gelegenheitsschriften vom Stapel lasten
mußte, sollen dagegen zum Theil nicht ohne Empfindung und echt poetische
Schönheiten sein. Viele von diesen kleinen Schriften sind übrigens, da Christ
sie gewöhnlich nur in sehr geringer Anzahl zur Vertheilung an seine Freunde
drucken ließ, große Seltenheiten geworden, einzelne gar, wie ein Lieblingsausdruck
unsers Verfassers lautet, "verschollen".

Für seine Zeit war Christ jedenfalls ein Mann von stnpender Univer¬
salität des Wissens. In den Autoren des Alterthums, namentlich in den
Historikern und Dichtern, war er belesen wie wenige, und wenn er auch, wie
seine Zeit überhaupt, sein Studium vor allem auf die lateinische Sprache ge¬
richtet hatte, deren klassische Schriftsteller er sämmtlich genau durchgelesen, viele
unter ihnen drei und mehrmal, so verstand er doch auch das Griechische sehr
wohl, und selbst das Hebräische war ihm nicht fremd.

Als Dozent konnte sich Christ, was die Vortragsmanier betrifft, nicht
von der damals allgemein verbreiteten Unsitte losmachen. Die öffentlichen
Vorträge, in denen er lateinische Dichter und Prosaiker erklärte, müssen von
unsäglicher Weitschweifigkeit gewesen sein, wenn man bedenkt, daß er zur Erklärung
von fünf Komödien des Plautus vier Jahre lang, zur Erklärung der Ovidischen
Metamorphosen acht Jahre lang jeden Tag eine Stunde brauchte. Er ver¬
wendete ungebührlich viel Zeit auf die moralische Belehrung seiner Zuhörer,
hing aber auch viel zu sehr an der Interpretation des einzelnen Wortes und
brachte, wozu ihn der reiche Schatz seines Gedächtnisses verleitete, eine Menge
von Dingen bei der Erklärung mit an, die nur sehr entfernt mit dem Thema
zusammenhingen. Kürzer wußte er sich in seinen privaten Vorlesungen zu
fassen. Sein literarisches und archäologisches Kompendium, das namentlich zur
Orientirung für reiche adliche Studirende bestimmt war, die nach Ablauf ihrer


Gren,boten Hi- 1878. 43

Macchiavell und des Agrippci von Nettesheim u. s. w. Und dies gelehrte
Potpourri steht nicht vereinzelt unter seinen Schriften da.

Hier eine Uebersicht seiner schriftstellerischen Thätigkeit zu geben, würde
ein Ding der Unmöglichkeit sein; sie bewegte sich auf zu verschiedenartigen
Gebieten, und bleibendes hat er nirgends geschaffen. Fast ausschließlich schrieb
er übrigens lateinisch, selten und ungern deutsch. Er verachtete das Deutsch
seinerZeit als eine heruntergekommene Sprache, die sich von der Vollkommenheit, mit
der Luther sie einst gehandhabt, weit entfernt habe. Aber wiewohl er das Uebel
richtig erkannte, fühlte er sich doch nicht berufen, zur Heilung desselben bei¬
zutragen. Sein Latein ist im hohen Grade elegant geschrieben, aber ähnlich
wie noch bei manchen Philologen aus unserer Zeit, die der Schrulle nachhängen
ihre Schriften lateinisch zu schreiben, verbrämt mit seltenen Worten oder seltenen
Wortbedeutungen. Seine zahlreichen lateinischen Dichtungen, wie er sie namentlich
als xrotössor xosssos in akademischen Gelegenheitsschriften vom Stapel lasten
mußte, sollen dagegen zum Theil nicht ohne Empfindung und echt poetische
Schönheiten sein. Viele von diesen kleinen Schriften sind übrigens, da Christ
sie gewöhnlich nur in sehr geringer Anzahl zur Vertheilung an seine Freunde
drucken ließ, große Seltenheiten geworden, einzelne gar, wie ein Lieblingsausdruck
unsers Verfassers lautet, „verschollen".

Für seine Zeit war Christ jedenfalls ein Mann von stnpender Univer¬
salität des Wissens. In den Autoren des Alterthums, namentlich in den
Historikern und Dichtern, war er belesen wie wenige, und wenn er auch, wie
seine Zeit überhaupt, sein Studium vor allem auf die lateinische Sprache ge¬
richtet hatte, deren klassische Schriftsteller er sämmtlich genau durchgelesen, viele
unter ihnen drei und mehrmal, so verstand er doch auch das Griechische sehr
wohl, und selbst das Hebräische war ihm nicht fremd.

Als Dozent konnte sich Christ, was die Vortragsmanier betrifft, nicht
von der damals allgemein verbreiteten Unsitte losmachen. Die öffentlichen
Vorträge, in denen er lateinische Dichter und Prosaiker erklärte, müssen von
unsäglicher Weitschweifigkeit gewesen sein, wenn man bedenkt, daß er zur Erklärung
von fünf Komödien des Plautus vier Jahre lang, zur Erklärung der Ovidischen
Metamorphosen acht Jahre lang jeden Tag eine Stunde brauchte. Er ver¬
wendete ungebührlich viel Zeit auf die moralische Belehrung seiner Zuhörer,
hing aber auch viel zu sehr an der Interpretation des einzelnen Wortes und
brachte, wozu ihn der reiche Schatz seines Gedächtnisses verleitete, eine Menge
von Dingen bei der Erklärung mit an, die nur sehr entfernt mit dem Thema
zusammenhingen. Kürzer wußte er sich in seinen privaten Vorlesungen zu
fassen. Sein literarisches und archäologisches Kompendium, das namentlich zur
Orientirung für reiche adliche Studirende bestimmt war, die nach Ablauf ihrer


Gren,boten Hi- 1878. 43
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[0345] Macchiavell und des Agrippci von Nettesheim u. s. w. Und dies gelehrte Potpourri steht nicht vereinzelt unter seinen Schriften da. Hier eine Uebersicht seiner schriftstellerischen Thätigkeit zu geben, würde ein Ding der Unmöglichkeit sein; sie bewegte sich auf zu verschiedenartigen Gebieten, und bleibendes hat er nirgends geschaffen. Fast ausschließlich schrieb er übrigens lateinisch, selten und ungern deutsch. Er verachtete das Deutsch seinerZeit als eine heruntergekommene Sprache, die sich von der Vollkommenheit, mit der Luther sie einst gehandhabt, weit entfernt habe. Aber wiewohl er das Uebel richtig erkannte, fühlte er sich doch nicht berufen, zur Heilung desselben bei¬ zutragen. Sein Latein ist im hohen Grade elegant geschrieben, aber ähnlich wie noch bei manchen Philologen aus unserer Zeit, die der Schrulle nachhängen ihre Schriften lateinisch zu schreiben, verbrämt mit seltenen Worten oder seltenen Wortbedeutungen. Seine zahlreichen lateinischen Dichtungen, wie er sie namentlich als xrotössor xosssos in akademischen Gelegenheitsschriften vom Stapel lasten mußte, sollen dagegen zum Theil nicht ohne Empfindung und echt poetische Schönheiten sein. Viele von diesen kleinen Schriften sind übrigens, da Christ sie gewöhnlich nur in sehr geringer Anzahl zur Vertheilung an seine Freunde drucken ließ, große Seltenheiten geworden, einzelne gar, wie ein Lieblingsausdruck unsers Verfassers lautet, „verschollen". Für seine Zeit war Christ jedenfalls ein Mann von stnpender Univer¬ salität des Wissens. In den Autoren des Alterthums, namentlich in den Historikern und Dichtern, war er belesen wie wenige, und wenn er auch, wie seine Zeit überhaupt, sein Studium vor allem auf die lateinische Sprache ge¬ richtet hatte, deren klassische Schriftsteller er sämmtlich genau durchgelesen, viele unter ihnen drei und mehrmal, so verstand er doch auch das Griechische sehr wohl, und selbst das Hebräische war ihm nicht fremd. Als Dozent konnte sich Christ, was die Vortragsmanier betrifft, nicht von der damals allgemein verbreiteten Unsitte losmachen. Die öffentlichen Vorträge, in denen er lateinische Dichter und Prosaiker erklärte, müssen von unsäglicher Weitschweifigkeit gewesen sein, wenn man bedenkt, daß er zur Erklärung von fünf Komödien des Plautus vier Jahre lang, zur Erklärung der Ovidischen Metamorphosen acht Jahre lang jeden Tag eine Stunde brauchte. Er ver¬ wendete ungebührlich viel Zeit auf die moralische Belehrung seiner Zuhörer, hing aber auch viel zu sehr an der Interpretation des einzelnen Wortes und brachte, wozu ihn der reiche Schatz seines Gedächtnisses verleitete, eine Menge von Dingen bei der Erklärung mit an, die nur sehr entfernt mit dem Thema zusammenhingen. Kürzer wußte er sich in seinen privaten Vorlesungen zu fassen. Sein literarisches und archäologisches Kompendium, das namentlich zur Orientirung für reiche adliche Studirende bestimmt war, die nach Ablauf ihrer Gren,boten Hi- 1878. 43

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157661/345>, abgerufen am 22.07.2024.