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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band.

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Reich wieder zu gewinnen, mit seinen Getreuen, den französischen Kugeln in
Ajaccio zum Trotz, in das weite Meer dcihinfnhr.

Die letzten Schicksale dieses wunderlichen Sohnes der Gascogne, einer
der eigenthümlichsten Erscheinungen, welche die Revolution und die Kriegs¬
stürme zu Anfang unseres Jahrhunderts aus dem Dunkel einer niedrigen
Existenz emporgemorfeu, bieten ein in gewissem Grade tragisches Interesse.
Durch sein soldatisches Talent und die Gunst des Franzosenkaisers, seines
Schwagers, in den Besitz des Königreichs Neapel gelangt, schwankt er, ohne
zu festem Entschlüsse zu kommeu, in seinen letzten Lebensjahren zwischen dem
abenteuerlichen Plan, die Sache Napoleon's zu verlassen, sich an die Spitze
einer nationalen Bewegung in Italien und zugleich in Einvernehmen mit den
europäischen Mächten, insbesondere mit Oesterreich und Englaud zu setzen --
und der magnetischen Gewalt, die der Zcinber des napoleonischen Sternes auf
ihn ausübt, auch da noch, wo derselbe nahe am Erlöschen ist. Murat's Schick¬
sal war diese Unentschlossenheit auf der eiuen, sein eitles Hoffen und Vertrauen
auf der andern Seite. Auch sein Stern ging unter vor der Erhebung Europa's
zur Wiederherstellung legitimer Gewalt. Wie der große Franzosenkaiser, so er¬
lag auch er im Kampfe mit den Prinzipien, welche die vereinigten Mächte
Europa's vertraten.

Seit dem Jahre 1808 König von Neapel, und nicht blos durch die Ge¬
meinschaft der Kriegsthaten, sondern auch durch die Bande des Bluts an
Napoleon geknüpft, begann in Joachim Murat der erste Gedanke an Abfall
von seinem kaiserlichen Schwager sich zu regen, als diesem im Jahre 1811 ein
Erbe, der "König von Rom" geboren war. Er befürchtete, Napoleon werde
ihn nun eines Tages hintenansetzen und seines Reiches berauben, und auch
die Italiener überkam seitdem die Besorgniß vor Vereinigung ihres Landes
mit dem französischen Kaiserreich. Sie schlossen sich näher, wie durch das ge¬
meinsame Interesse bestimmt, an Joachim an, dessen Mißtrauen wuchs und
genährt ward durch seiue zahlreichen Neider und Feinde in Paris, deren rege
Thätigkeit daran arbeitete, die Zuneigung des Kaisers zu ihm erkalten zu
lassen. Joachim erfuhr Kränkungen aller Art in Paris, in seiner eigenen
Hauptstadt. Hier, in Neapel, kam er sich vor, als stehe er unter Vormundschaft
oder Fürsprache französischer Generale. Sogar vor dem Versuch, die Gemahlin
Karolina, Schwester Napoleon's, dem König abspünstig zu machen, schenken die
Feinde sich nicht. Und vielleicht wäre es schon 1811 zu einem Bruch zwischen
Joachim und dem französischen Kaiser gekommen, wenn nicht der Gang der
großen geschichtlichen Ereignisse, der Ausbruch des russischen Kriegs von 1812,
eingewirkt hätte. Napoleon bedürfte dringend seines Schwagers, und dieser
folgte dem Rufe als Oberbefehlshaber der gesammten Reiterei. Aber voller


Reich wieder zu gewinnen, mit seinen Getreuen, den französischen Kugeln in
Ajaccio zum Trotz, in das weite Meer dcihinfnhr.

Die letzten Schicksale dieses wunderlichen Sohnes der Gascogne, einer
der eigenthümlichsten Erscheinungen, welche die Revolution und die Kriegs¬
stürme zu Anfang unseres Jahrhunderts aus dem Dunkel einer niedrigen
Existenz emporgemorfeu, bieten ein in gewissem Grade tragisches Interesse.
Durch sein soldatisches Talent und die Gunst des Franzosenkaisers, seines
Schwagers, in den Besitz des Königreichs Neapel gelangt, schwankt er, ohne
zu festem Entschlüsse zu kommeu, in seinen letzten Lebensjahren zwischen dem
abenteuerlichen Plan, die Sache Napoleon's zu verlassen, sich an die Spitze
einer nationalen Bewegung in Italien und zugleich in Einvernehmen mit den
europäischen Mächten, insbesondere mit Oesterreich und Englaud zu setzen —
und der magnetischen Gewalt, die der Zcinber des napoleonischen Sternes auf
ihn ausübt, auch da noch, wo derselbe nahe am Erlöschen ist. Murat's Schick¬
sal war diese Unentschlossenheit auf der eiuen, sein eitles Hoffen und Vertrauen
auf der andern Seite. Auch sein Stern ging unter vor der Erhebung Europa's
zur Wiederherstellung legitimer Gewalt. Wie der große Franzosenkaiser, so er¬
lag auch er im Kampfe mit den Prinzipien, welche die vereinigten Mächte
Europa's vertraten.

Seit dem Jahre 1808 König von Neapel, und nicht blos durch die Ge¬
meinschaft der Kriegsthaten, sondern auch durch die Bande des Bluts an
Napoleon geknüpft, begann in Joachim Murat der erste Gedanke an Abfall
von seinem kaiserlichen Schwager sich zu regen, als diesem im Jahre 1811 ein
Erbe, der „König von Rom" geboren war. Er befürchtete, Napoleon werde
ihn nun eines Tages hintenansetzen und seines Reiches berauben, und auch
die Italiener überkam seitdem die Besorgniß vor Vereinigung ihres Landes
mit dem französischen Kaiserreich. Sie schlossen sich näher, wie durch das ge¬
meinsame Interesse bestimmt, an Joachim an, dessen Mißtrauen wuchs und
genährt ward durch seiue zahlreichen Neider und Feinde in Paris, deren rege
Thätigkeit daran arbeitete, die Zuneigung des Kaisers zu ihm erkalten zu
lassen. Joachim erfuhr Kränkungen aller Art in Paris, in seiner eigenen
Hauptstadt. Hier, in Neapel, kam er sich vor, als stehe er unter Vormundschaft
oder Fürsprache französischer Generale. Sogar vor dem Versuch, die Gemahlin
Karolina, Schwester Napoleon's, dem König abspünstig zu machen, schenken die
Feinde sich nicht. Und vielleicht wäre es schon 1811 zu einem Bruch zwischen
Joachim und dem französischen Kaiser gekommen, wenn nicht der Gang der
großen geschichtlichen Ereignisse, der Ausbruch des russischen Kriegs von 1812,
eingewirkt hätte. Napoleon bedürfte dringend seines Schwagers, und dieser
folgte dem Rufe als Oberbefehlshaber der gesammten Reiterei. Aber voller


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[0162] Reich wieder zu gewinnen, mit seinen Getreuen, den französischen Kugeln in Ajaccio zum Trotz, in das weite Meer dcihinfnhr. Die letzten Schicksale dieses wunderlichen Sohnes der Gascogne, einer der eigenthümlichsten Erscheinungen, welche die Revolution und die Kriegs¬ stürme zu Anfang unseres Jahrhunderts aus dem Dunkel einer niedrigen Existenz emporgemorfeu, bieten ein in gewissem Grade tragisches Interesse. Durch sein soldatisches Talent und die Gunst des Franzosenkaisers, seines Schwagers, in den Besitz des Königreichs Neapel gelangt, schwankt er, ohne zu festem Entschlüsse zu kommeu, in seinen letzten Lebensjahren zwischen dem abenteuerlichen Plan, die Sache Napoleon's zu verlassen, sich an die Spitze einer nationalen Bewegung in Italien und zugleich in Einvernehmen mit den europäischen Mächten, insbesondere mit Oesterreich und Englaud zu setzen — und der magnetischen Gewalt, die der Zcinber des napoleonischen Sternes auf ihn ausübt, auch da noch, wo derselbe nahe am Erlöschen ist. Murat's Schick¬ sal war diese Unentschlossenheit auf der eiuen, sein eitles Hoffen und Vertrauen auf der andern Seite. Auch sein Stern ging unter vor der Erhebung Europa's zur Wiederherstellung legitimer Gewalt. Wie der große Franzosenkaiser, so er¬ lag auch er im Kampfe mit den Prinzipien, welche die vereinigten Mächte Europa's vertraten. Seit dem Jahre 1808 König von Neapel, und nicht blos durch die Ge¬ meinschaft der Kriegsthaten, sondern auch durch die Bande des Bluts an Napoleon geknüpft, begann in Joachim Murat der erste Gedanke an Abfall von seinem kaiserlichen Schwager sich zu regen, als diesem im Jahre 1811 ein Erbe, der „König von Rom" geboren war. Er befürchtete, Napoleon werde ihn nun eines Tages hintenansetzen und seines Reiches berauben, und auch die Italiener überkam seitdem die Besorgniß vor Vereinigung ihres Landes mit dem französischen Kaiserreich. Sie schlossen sich näher, wie durch das ge¬ meinsame Interesse bestimmt, an Joachim an, dessen Mißtrauen wuchs und genährt ward durch seiue zahlreichen Neider und Feinde in Paris, deren rege Thätigkeit daran arbeitete, die Zuneigung des Kaisers zu ihm erkalten zu lassen. Joachim erfuhr Kränkungen aller Art in Paris, in seiner eigenen Hauptstadt. Hier, in Neapel, kam er sich vor, als stehe er unter Vormundschaft oder Fürsprache französischer Generale. Sogar vor dem Versuch, die Gemahlin Karolina, Schwester Napoleon's, dem König abspünstig zu machen, schenken die Feinde sich nicht. Und vielleicht wäre es schon 1811 zu einem Bruch zwischen Joachim und dem französischen Kaiser gekommen, wenn nicht der Gang der großen geschichtlichen Ereignisse, der Ausbruch des russischen Kriegs von 1812, eingewirkt hätte. Napoleon bedürfte dringend seines Schwagers, und dieser folgte dem Rufe als Oberbefehlshaber der gesammten Reiterei. Aber voller

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157661/162>, abgerufen am 03.07.2024.