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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band.

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Alteugland's. In der Morgendämmerung werden die Arbeiter durch Aufseher,
die mit Hunden unterstreichen, von ihren armseligen Lagerstätten aufgejagt
und zur Arbeit getrieben. Um so wohlthuender wirkt dagegen ein Bild von
Herkomer, der mit Sir John Gilbert, Leighton und Alma Tndema zu den
originellsten und besten Talenten unter den englischen Künstlern gehört: eine
Dorfstraße, die sich das Ufer eines Flüßchens entlang zieht, mit Landleuten,
welche sich der Ruhe des Feierabends hingeben.

So haben alle Freuden, Leiden und Mühen des Landlebens ihre geistvollen,
menschenkundigen Schilderer gefunden, die mit scharfem Beobachtungssinn, mit
einer markigen Charakteristik die Grazie der Formengebung und die Wahrheit
des Lebens verbinden. Aber diese Maler haben nicht bloß ein Auge für die
Reize der Landschaft von Kent, Wales und Lincolnshire, sie dringen auch in
die kalten Nebel London's und in die Tiefen des sozialen Elends der Themse¬
stadt. So hat Luke Fildes eine jener ergreifenden Szenen gemalt, wie sie sich
allabendlich während der nebligen Herbst- und Winterszeit vor den Nachtasylen,
den Stätten des Lasters und der Armuth, ereignen: zerlumpte Bettler, ver¬
schämte Arme, welche die bitterste Noth hierher getrieben hat und die mit
zitternden Händen die letzten Pence aus den durchlöchertem Börsen zusammen¬
suchen, Strolche und Tagediebe -- alles drängt sich vor den Thüren des Asyls
zusammen und harrt auf den Augenblick der Eröffnung. Und dann ein anderes
Nachtbild, ein freundlicheres! Sonnabend Nacht im Osten von London von
Barnard: eine Markt- und Straßenszene bei greller Beleuchtung durch Fackeln
und Windlichter, mit der Verve und dem derben Humor eines Menzel gemalt.
Sonst ist der Humor Alt-Englaud's auf der Ausstellung schlecht weggekommen.
Eine behagliche Fröhlichkeit erregen viele Bilder, aber aus die Lachmuskeln
wirkt nur ein einziges: der Derbytag von C. Green, einem der ausgezeichnetsten
Aquarellmaler England's. Man sieht nur den Rand der Rennbahn, die
Barriere und das erregte Publikum im Moment, wo die Botschaft von Mund
zu Mund geht: Sie kommen! Sie kommen! Wie das drängt, schiebt, stößt!
Wie der eine auf den andern steigt! Wie dort ein Cylinder eingedrückt wird,
wie hier einer mit einer künstlichen Tribüne eigener Konstruktion zusammen¬
bricht! Alle Augen sind auf einen Punkt gerichtet und doch -- welche Man¬
nigfaltigkeit des Ausdrucks in diesen hundert Köpfen, die der vortreffliche
Meister alle mit gleicher Liebe ausgeführt, mit gleicher Schärfe charalterisirt
hat, alle, bis auf den armen Polieemann, der allein den Strom znrückdümmen
soll und doch hingerissen wird von der Macht des aufregenden Moments: Sie
kommen! Sie kommen!

Diese flüchtige Uebersicht kann dem Leser kaum einen annähernden Begriff
von den Reichthum der englischen Kunst an originellen Künstlererscheinungen


Grenzboten III. 1378. Is

Alteugland's. In der Morgendämmerung werden die Arbeiter durch Aufseher,
die mit Hunden unterstreichen, von ihren armseligen Lagerstätten aufgejagt
und zur Arbeit getrieben. Um so wohlthuender wirkt dagegen ein Bild von
Herkomer, der mit Sir John Gilbert, Leighton und Alma Tndema zu den
originellsten und besten Talenten unter den englischen Künstlern gehört: eine
Dorfstraße, die sich das Ufer eines Flüßchens entlang zieht, mit Landleuten,
welche sich der Ruhe des Feierabends hingeben.

So haben alle Freuden, Leiden und Mühen des Landlebens ihre geistvollen,
menschenkundigen Schilderer gefunden, die mit scharfem Beobachtungssinn, mit
einer markigen Charakteristik die Grazie der Formengebung und die Wahrheit
des Lebens verbinden. Aber diese Maler haben nicht bloß ein Auge für die
Reize der Landschaft von Kent, Wales und Lincolnshire, sie dringen auch in
die kalten Nebel London's und in die Tiefen des sozialen Elends der Themse¬
stadt. So hat Luke Fildes eine jener ergreifenden Szenen gemalt, wie sie sich
allabendlich während der nebligen Herbst- und Winterszeit vor den Nachtasylen,
den Stätten des Lasters und der Armuth, ereignen: zerlumpte Bettler, ver¬
schämte Arme, welche die bitterste Noth hierher getrieben hat und die mit
zitternden Händen die letzten Pence aus den durchlöchertem Börsen zusammen¬
suchen, Strolche und Tagediebe — alles drängt sich vor den Thüren des Asyls
zusammen und harrt auf den Augenblick der Eröffnung. Und dann ein anderes
Nachtbild, ein freundlicheres! Sonnabend Nacht im Osten von London von
Barnard: eine Markt- und Straßenszene bei greller Beleuchtung durch Fackeln
und Windlichter, mit der Verve und dem derben Humor eines Menzel gemalt.
Sonst ist der Humor Alt-Englaud's auf der Ausstellung schlecht weggekommen.
Eine behagliche Fröhlichkeit erregen viele Bilder, aber aus die Lachmuskeln
wirkt nur ein einziges: der Derbytag von C. Green, einem der ausgezeichnetsten
Aquarellmaler England's. Man sieht nur den Rand der Rennbahn, die
Barriere und das erregte Publikum im Moment, wo die Botschaft von Mund
zu Mund geht: Sie kommen! Sie kommen! Wie das drängt, schiebt, stößt!
Wie der eine auf den andern steigt! Wie dort ein Cylinder eingedrückt wird,
wie hier einer mit einer künstlichen Tribüne eigener Konstruktion zusammen¬
bricht! Alle Augen sind auf einen Punkt gerichtet und doch — welche Man¬
nigfaltigkeit des Ausdrucks in diesen hundert Köpfen, die der vortreffliche
Meister alle mit gleicher Liebe ausgeführt, mit gleicher Schärfe charalterisirt
hat, alle, bis auf den armen Polieemann, der allein den Strom znrückdümmen
soll und doch hingerissen wird von der Macht des aufregenden Moments: Sie
kommen! Sie kommen!

Diese flüchtige Uebersicht kann dem Leser kaum einen annähernden Begriff
von den Reichthum der englischen Kunst an originellen Künstlererscheinungen


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[0121] Alteugland's. In der Morgendämmerung werden die Arbeiter durch Aufseher, die mit Hunden unterstreichen, von ihren armseligen Lagerstätten aufgejagt und zur Arbeit getrieben. Um so wohlthuender wirkt dagegen ein Bild von Herkomer, der mit Sir John Gilbert, Leighton und Alma Tndema zu den originellsten und besten Talenten unter den englischen Künstlern gehört: eine Dorfstraße, die sich das Ufer eines Flüßchens entlang zieht, mit Landleuten, welche sich der Ruhe des Feierabends hingeben. So haben alle Freuden, Leiden und Mühen des Landlebens ihre geistvollen, menschenkundigen Schilderer gefunden, die mit scharfem Beobachtungssinn, mit einer markigen Charakteristik die Grazie der Formengebung und die Wahrheit des Lebens verbinden. Aber diese Maler haben nicht bloß ein Auge für die Reize der Landschaft von Kent, Wales und Lincolnshire, sie dringen auch in die kalten Nebel London's und in die Tiefen des sozialen Elends der Themse¬ stadt. So hat Luke Fildes eine jener ergreifenden Szenen gemalt, wie sie sich allabendlich während der nebligen Herbst- und Winterszeit vor den Nachtasylen, den Stätten des Lasters und der Armuth, ereignen: zerlumpte Bettler, ver¬ schämte Arme, welche die bitterste Noth hierher getrieben hat und die mit zitternden Händen die letzten Pence aus den durchlöchertem Börsen zusammen¬ suchen, Strolche und Tagediebe — alles drängt sich vor den Thüren des Asyls zusammen und harrt auf den Augenblick der Eröffnung. Und dann ein anderes Nachtbild, ein freundlicheres! Sonnabend Nacht im Osten von London von Barnard: eine Markt- und Straßenszene bei greller Beleuchtung durch Fackeln und Windlichter, mit der Verve und dem derben Humor eines Menzel gemalt. Sonst ist der Humor Alt-Englaud's auf der Ausstellung schlecht weggekommen. Eine behagliche Fröhlichkeit erregen viele Bilder, aber aus die Lachmuskeln wirkt nur ein einziges: der Derbytag von C. Green, einem der ausgezeichnetsten Aquarellmaler England's. Man sieht nur den Rand der Rennbahn, die Barriere und das erregte Publikum im Moment, wo die Botschaft von Mund zu Mund geht: Sie kommen! Sie kommen! Wie das drängt, schiebt, stößt! Wie der eine auf den andern steigt! Wie dort ein Cylinder eingedrückt wird, wie hier einer mit einer künstlichen Tribüne eigener Konstruktion zusammen¬ bricht! Alle Augen sind auf einen Punkt gerichtet und doch — welche Man¬ nigfaltigkeit des Ausdrucks in diesen hundert Köpfen, die der vortreffliche Meister alle mit gleicher Liebe ausgeführt, mit gleicher Schärfe charalterisirt hat, alle, bis auf den armen Polieemann, der allein den Strom znrückdümmen soll und doch hingerissen wird von der Macht des aufregenden Moments: Sie kommen! Sie kommen! Diese flüchtige Uebersicht kann dem Leser kaum einen annähernden Begriff von den Reichthum der englischen Kunst an originellen Künstlererscheinungen Grenzboten III. 1378. Is

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157661/121>, abgerufen am 22.07.2024.