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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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oder die Persönlichkeit des Helden mehr Hauptsache ist als die Handlung.
Man nennt diese Dichtungsart auch "epische Lyrik". Ein durchschlagender
Unterschied zwischen Romanze und Ballade ist zur Zeit nicht mehr vorhanden.
Ballade bedeutet ursprünglich Tanzlied, das ist zum Tanze gesungenes Lied.
Der Name Romanze weist darauf hin, daß diese Dichtungsgattung zuerst bei
den romanischen Völkern blühte, d. h. denjenigen, deren Sprache ans der
Mischung der Volkssprache der römischen Krieger wicht zu verwechseln mit dem
Lateinischen) mit der alten Landessprache entstanden ist, z. B. Italiänern, Fran¬
zosen, Spaniern." Die zweite Vorbemerkung, und diese sehlt, wie gesagt, bei
keinem Gedichte, betrifft den metrischen Bau und lautet hier: "16 Strophen,
jede aus 2 dreigliedrigen Perioden bestehend. Die einfachste Form der Periode
(Vorderglied und Hinterglied) wird dadurch erweitert, daß jedem Vordergliede
ein mit ihm metrisch übereinstimmendes und außerdem reimendes zweites
Vorderglied parallel gestellt wird. Im Uebrigen reimt nur Hinterglied mit
Hinterglied. Die Anzahl der Takte ist durchweg 5; doch ist die Hebung des
letzten, in Glied 3 und 6 sogar der ganze letzte Takt durch Pause ersetzt zu
denken."

Nachdem man durch diese lichtvolle Darlegung der technischen Verhältnisse
in den Stand gesetzt ist, den Strophenban des Gedichtes gehörig zu übersehen
und vor dem Wahn, daß etwa "Zinnen" sich auf "unterthänig" reine, ein für
allemal geschützt ist, wird man denn nun an das Werk des Schiller'schen Genius
selbst hinangeführt und beginnt zu lesen:


Er --

Aber halt! "Hier stock' ich schon! Wer hilft mir weiter fort?" Wer ist
der Er? -- Anmerkung 1 belehrt uns sofort darüber: "Polykrates, Gewalt¬
herrscher um 530 vor Christo". Dankbar für diese prompte Aufklärung lesen
wir weiter:


stand auf seines Daches Zinnen.

Abermals halt! Was ist eine Zinne? -- Anmerkung 2 verweist uns deshalb
auf das 19. Gedicht. Chamisso's "Schloß Bonconrt", bei welchem zu den
Worten in der zweiten Strophe: "Ich kenne die Thürme, die Zinnen" die ge¬
wünschte Antwort bereits gegeben ist: "oberster Einfassungskranz eines Mauer¬
werks." Wir fahren zu lesen fort:


Er schaute mit veranülsten Sinnen
Auf das beherrschte Samos

"hin", möchte man gern noch hinzufügen, doch vor allen Dingen muß man
sich natürlich über Samos und die Beziehungen, die zwischen dieser Insel und
dem obengenannten "Er" bestanden haben, klar geworden sein, und so theilt


oder die Persönlichkeit des Helden mehr Hauptsache ist als die Handlung.
Man nennt diese Dichtungsart auch „epische Lyrik". Ein durchschlagender
Unterschied zwischen Romanze und Ballade ist zur Zeit nicht mehr vorhanden.
Ballade bedeutet ursprünglich Tanzlied, das ist zum Tanze gesungenes Lied.
Der Name Romanze weist darauf hin, daß diese Dichtungsgattung zuerst bei
den romanischen Völkern blühte, d. h. denjenigen, deren Sprache ans der
Mischung der Volkssprache der römischen Krieger wicht zu verwechseln mit dem
Lateinischen) mit der alten Landessprache entstanden ist, z. B. Italiänern, Fran¬
zosen, Spaniern." Die zweite Vorbemerkung, und diese sehlt, wie gesagt, bei
keinem Gedichte, betrifft den metrischen Bau und lautet hier: „16 Strophen,
jede aus 2 dreigliedrigen Perioden bestehend. Die einfachste Form der Periode
(Vorderglied und Hinterglied) wird dadurch erweitert, daß jedem Vordergliede
ein mit ihm metrisch übereinstimmendes und außerdem reimendes zweites
Vorderglied parallel gestellt wird. Im Uebrigen reimt nur Hinterglied mit
Hinterglied. Die Anzahl der Takte ist durchweg 5; doch ist die Hebung des
letzten, in Glied 3 und 6 sogar der ganze letzte Takt durch Pause ersetzt zu
denken."

Nachdem man durch diese lichtvolle Darlegung der technischen Verhältnisse
in den Stand gesetzt ist, den Strophenban des Gedichtes gehörig zu übersehen
und vor dem Wahn, daß etwa „Zinnen" sich auf „unterthänig" reine, ein für
allemal geschützt ist, wird man denn nun an das Werk des Schiller'schen Genius
selbst hinangeführt und beginnt zu lesen:


Er —

Aber halt! „Hier stock' ich schon! Wer hilft mir weiter fort?" Wer ist
der Er? — Anmerkung 1 belehrt uns sofort darüber: „Polykrates, Gewalt¬
herrscher um 530 vor Christo". Dankbar für diese prompte Aufklärung lesen
wir weiter:


stand auf seines Daches Zinnen.

Abermals halt! Was ist eine Zinne? — Anmerkung 2 verweist uns deshalb
auf das 19. Gedicht. Chamisso's „Schloß Bonconrt", bei welchem zu den
Worten in der zweiten Strophe: „Ich kenne die Thürme, die Zinnen" die ge¬
wünschte Antwort bereits gegeben ist: „oberster Einfassungskranz eines Mauer¬
werks." Wir fahren zu lesen fort:


Er schaute mit veranülsten Sinnen
Auf das beherrschte Samos

„hin", möchte man gern noch hinzufügen, doch vor allen Dingen muß man
sich natürlich über Samos und die Beziehungen, die zwischen dieser Insel und
dem obengenannten „Er" bestanden haben, klar geworden sein, und so theilt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/504>, abgerufen am 01.09.2024.