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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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bisher in diesem Artikel produzirt worden ist. Als ich das Buch aufschlug,
wußte ich eine Zeitlang nicht, ob ich es für Ernst oder für Scherz nehmen
sollte; ich glaubte, es mit einer allerdings etwas breit gerathenen Parodie auf
gewisse Erläuterungsschriften zu thun zu haben. Leider mußte ich mich bald
überzeugen, daß der Herausgeber keineswegs die Absicht hat zu scherzen, sondern
daß er mit seinem Buche dem deutschen Hause und der deutschen Schule einen
wichtigen Dienst geleistet zu haben glaubt.

Das Buch enthält eine Auswahl von 90 der besten deutschen Gedichte,
die der Herausgeber in acht Abtheilungen dergestalt geordnet hat, daß die
ersten sieben davon sieben Jahreskursen entsprechen und den sämmtlichen De¬
klamationsstoff, wie er für das Alter von 10--17 Jahren (auf unsern Gym¬
nasien und Realschulen also von der Sexta bis zur Obersekunda) erfordert wird,
umfassen sollen, die letzte Abtheilung mehr anhangsweise von fremdländischen
Strophenarten und Rhythmen, von der Nibelungenstrophe und dem alliterirenden
Verse Proben giebt.

Die getroffene Auswahl kann man gelten lassen. Sie ist in keiner Weise
durch persönliche Liebhabereien beeinflußt und bietet in der Hauptsache einen
Kanon von Gedichten, deren intime Bekanntschaft man allerdings bei jedem,
der eine höhere Schule verläßt, voraussetzen möchte. Die Bevorzugung Uhland's,
der mit 29 Nummern vertreten ist, (gegen Schiller mit 18, Goethe mit 8
Nummern) ist, wie man sich sofort überzeugen kann, keine willkürliche, sondern
entspricht durchaus den thatsächlichen Verhältnissen; Uhland's Gedichte liefern
wirklich der Schule, rein numerisch, eine größere Ausbeute als die Schiller'-
schen und Goethe'schen. Auch daß Bürger ganz fehlt, ist kein Unglück. Eine
andere Frage ist schon die, wie es möglich sein soll, mit 77 Gedichten --
denn 13 Nummern bilden den erwähnten Anhang -- sieben ganze Schul¬
jahre lang auszukommen. Daß diese Anzahl genügen könnte, das wäre
in der That nur dann allenfalls denkbar, wenn man die Gedichte in der Weise
traktirte, wie es der Herausgeber in dem vorliegenden Buche gethan. Das aber
ist es eben, was ich für unmöglich halte, wenn wir uns nicht an unsern
Dichtern ebenso wie an unsrer Jugend versündigen wollen.

Für Herrn Armknecht ist der Text eines. Schiller'schen Gedichtes absolut
zu weiter nichts da, als um allerhand geschichtliche, geographische (!), natur¬
geschichtliche (!) und grammatische Bemerkungen daran anzuknüpfen. Zwar
versichert er ausdrücklich, daß alle diese Anmerkungen keinen andern Zweck
haben, als ein völliges Wort- und Sachverständniß des Gedichts "anzubahnen",


geschichtlichen Vermerken und Hinweisen für den Vortrac, versehen von Ur, prit, W> Arm¬
in echt, Direktor der Realschule in Narel, Emden, W. H-iynel, 1878,

bisher in diesem Artikel produzirt worden ist. Als ich das Buch aufschlug,
wußte ich eine Zeitlang nicht, ob ich es für Ernst oder für Scherz nehmen
sollte; ich glaubte, es mit einer allerdings etwas breit gerathenen Parodie auf
gewisse Erläuterungsschriften zu thun zu haben. Leider mußte ich mich bald
überzeugen, daß der Herausgeber keineswegs die Absicht hat zu scherzen, sondern
daß er mit seinem Buche dem deutschen Hause und der deutschen Schule einen
wichtigen Dienst geleistet zu haben glaubt.

Das Buch enthält eine Auswahl von 90 der besten deutschen Gedichte,
die der Herausgeber in acht Abtheilungen dergestalt geordnet hat, daß die
ersten sieben davon sieben Jahreskursen entsprechen und den sämmtlichen De¬
klamationsstoff, wie er für das Alter von 10—17 Jahren (auf unsern Gym¬
nasien und Realschulen also von der Sexta bis zur Obersekunda) erfordert wird,
umfassen sollen, die letzte Abtheilung mehr anhangsweise von fremdländischen
Strophenarten und Rhythmen, von der Nibelungenstrophe und dem alliterirenden
Verse Proben giebt.

Die getroffene Auswahl kann man gelten lassen. Sie ist in keiner Weise
durch persönliche Liebhabereien beeinflußt und bietet in der Hauptsache einen
Kanon von Gedichten, deren intime Bekanntschaft man allerdings bei jedem,
der eine höhere Schule verläßt, voraussetzen möchte. Die Bevorzugung Uhland's,
der mit 29 Nummern vertreten ist, (gegen Schiller mit 18, Goethe mit 8
Nummern) ist, wie man sich sofort überzeugen kann, keine willkürliche, sondern
entspricht durchaus den thatsächlichen Verhältnissen; Uhland's Gedichte liefern
wirklich der Schule, rein numerisch, eine größere Ausbeute als die Schiller'-
schen und Goethe'schen. Auch daß Bürger ganz fehlt, ist kein Unglück. Eine
andere Frage ist schon die, wie es möglich sein soll, mit 77 Gedichten —
denn 13 Nummern bilden den erwähnten Anhang — sieben ganze Schul¬
jahre lang auszukommen. Daß diese Anzahl genügen könnte, das wäre
in der That nur dann allenfalls denkbar, wenn man die Gedichte in der Weise
traktirte, wie es der Herausgeber in dem vorliegenden Buche gethan. Das aber
ist es eben, was ich für unmöglich halte, wenn wir uns nicht an unsern
Dichtern ebenso wie an unsrer Jugend versündigen wollen.

Für Herrn Armknecht ist der Text eines. Schiller'schen Gedichtes absolut
zu weiter nichts da, als um allerhand geschichtliche, geographische (!), natur¬
geschichtliche (!) und grammatische Bemerkungen daran anzuknüpfen. Zwar
versichert er ausdrücklich, daß alle diese Anmerkungen keinen andern Zweck
haben, als ein völliges Wort- und Sachverständniß des Gedichts „anzubahnen",


geschichtlichen Vermerken und Hinweisen für den Vortrac, versehen von Ur, prit, W> Arm¬
in echt, Direktor der Realschule in Narel, Emden, W. H-iynel, 1878,
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/500>, abgerufen am 01.09.2024.