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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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derjenige, dem die Aufsicht über einen Bildersaal anvertraut ist, Physisch ver¬
richtet." So leitet Lessing Mai 1754 seine "Rettungen" ein.

In einer der ersten sucht er den Horaz von dem Vorwurf der Wollust
zu reinigen. Den: Dichter sei es erlaubt, im Ton und Geschmack seines Zeit¬
alters die Wollust zu schildern. "Alles woraus ein Dichter seine eigene An¬
gelegenheit macht, rührt weit mehr als was er nur erzählt. Er muß die
Empfindungen, die er erregen will, in sich selbst zu haben scheinen; er muß
scheinen, aus der Erfahrung und nicht aus der bloßen Einbildungskraft zu
sprechen. Diese, durch welche er seinem geschmeidigen Geist alle möglichen
Formen auf kurze Zeit zu geben und ihn in alle Leidenschaften zu setzen weiß,
ist eben das, was seinen Vorzug macht. Diejenigen, denen er versagt ist,
können sich nicht vorstellen, wie ein Dichter von Liebe seufzen könne, ohne sie
zu suhlen. Sie, die alle Leidenschaften nnr durch Wirklichkeiten in sich er¬
wecken lassen, wissen von dein Geheimniß nichts, sie durch willkürliche Vor¬
stellungen rege zu machen."

Offenbar schwebte Lessing die dramatische Poesie vor, aber er dehnte
die Konsequenz auch aus die Lyrik aus.

"Bei einem Dichter darf man die Spiele seines Witzes nicht für Bekennt¬
nisse seines Herzens ansetzn. Besonders der Odendichter pflegt fast immer in
der ersten Person zu reden: er setzt sich in fremde Umstände, um seinen Witz
auch außer der Sphäre seiner eigenen Empfindungen zu üben. Er sucht die
Züge der schönen Natur aus verschiedenen Bildern zusammen, und macht ein
Ganzes daraus, wo er sich selbst zum Subjekt nimmt. -- Ich verrathe hier
vielleicht ein Geheimniß, wovon die galante Ehre so mancher witzigen Köpfe
abhängt."

Les sing pflegte zu sagen, einer herrschenden Uebertreibung müsse man
die umgekehrte entgegensetzen, um das Gleichgewicht herzustellen: Klopstock's
Schule, die so sehr auf die Heiligung des Innern dringt, wird recht derb
brüskirt. Im Grund machte ja Klopstock auch seine Gedichte, obgleich er es
nicht Wort haben wollte.

"Z. B. Rousseau soll ans die Frage: wie es möglich sei, daß er sowohl
die unzüchtigsten Sinnschriften als die göttlichsten Psalmen machen könne? ge¬
antwortet haben: er verfertige jene ohne Ruchlosigkeit wie diese ohne Andacht. --
Seine Antwort war vielleicht zu aufrichtig, aber dem Genie eines Dichters
vollkommen gemäß."

"Je größer ein Dichter ist, je weiter wird sich das, was er von sich selbst
mit einfließen läßt, von der strengen Wahrheit entfernen. Unmöglich ist, aus
seinen Gedichten seine Meinungen zu schließe", sie möge" nnn die Religion
oder die Weltweisheit betreffe". Die Gegenstände, mit welchen er sich be-


derjenige, dem die Aufsicht über einen Bildersaal anvertraut ist, Physisch ver¬
richtet." So leitet Lessing Mai 1754 seine „Rettungen" ein.

In einer der ersten sucht er den Horaz von dem Vorwurf der Wollust
zu reinigen. Den: Dichter sei es erlaubt, im Ton und Geschmack seines Zeit¬
alters die Wollust zu schildern. „Alles woraus ein Dichter seine eigene An¬
gelegenheit macht, rührt weit mehr als was er nur erzählt. Er muß die
Empfindungen, die er erregen will, in sich selbst zu haben scheinen; er muß
scheinen, aus der Erfahrung und nicht aus der bloßen Einbildungskraft zu
sprechen. Diese, durch welche er seinem geschmeidigen Geist alle möglichen
Formen auf kurze Zeit zu geben und ihn in alle Leidenschaften zu setzen weiß,
ist eben das, was seinen Vorzug macht. Diejenigen, denen er versagt ist,
können sich nicht vorstellen, wie ein Dichter von Liebe seufzen könne, ohne sie
zu suhlen. Sie, die alle Leidenschaften nnr durch Wirklichkeiten in sich er¬
wecken lassen, wissen von dein Geheimniß nichts, sie durch willkürliche Vor¬
stellungen rege zu machen."

Offenbar schwebte Lessing die dramatische Poesie vor, aber er dehnte
die Konsequenz auch aus die Lyrik aus.

„Bei einem Dichter darf man die Spiele seines Witzes nicht für Bekennt¬
nisse seines Herzens ansetzn. Besonders der Odendichter pflegt fast immer in
der ersten Person zu reden: er setzt sich in fremde Umstände, um seinen Witz
auch außer der Sphäre seiner eigenen Empfindungen zu üben. Er sucht die
Züge der schönen Natur aus verschiedenen Bildern zusammen, und macht ein
Ganzes daraus, wo er sich selbst zum Subjekt nimmt. — Ich verrathe hier
vielleicht ein Geheimniß, wovon die galante Ehre so mancher witzigen Köpfe
abhängt."

Les sing pflegte zu sagen, einer herrschenden Uebertreibung müsse man
die umgekehrte entgegensetzen, um das Gleichgewicht herzustellen: Klopstock's
Schule, die so sehr auf die Heiligung des Innern dringt, wird recht derb
brüskirt. Im Grund machte ja Klopstock auch seine Gedichte, obgleich er es
nicht Wort haben wollte.

„Z. B. Rousseau soll ans die Frage: wie es möglich sei, daß er sowohl
die unzüchtigsten Sinnschriften als die göttlichsten Psalmen machen könne? ge¬
antwortet haben: er verfertige jene ohne Ruchlosigkeit wie diese ohne Andacht. —
Seine Antwort war vielleicht zu aufrichtig, aber dem Genie eines Dichters
vollkommen gemäß."

„Je größer ein Dichter ist, je weiter wird sich das, was er von sich selbst
mit einfließen läßt, von der strengen Wahrheit entfernen. Unmöglich ist, aus
seinen Gedichten seine Meinungen zu schließe», sie möge» nnn die Religion
oder die Weltweisheit betreffe«. Die Gegenstände, mit welchen er sich be-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/50>, abgerufen am 29.12.2024.