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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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wie hinter einem durchsichtigen Schleier erkennbar wurde. Nur schade, daß
kaum eines der von dem scharfsinnigen augeführten Daten richtig ist, daß
namentlich das Geburtsjahr Kaspar's, wie unten gezeigt werden wird, höchst
wahrscheinlich in den "Geburtsnotizen" um sast zwei Jahre zu spät datirt ist.

Insofern bekennt Feuerbach offen die Schwäche seiner Beweisführung, als
er endlich auch das Gerücht, das von Baden nach Nürnberg herüberge¬
kommen, als Glied in der Kette seiner "moralischen Gewißheit" für das badische
Prinzenthum Kaspar Hauser's einstellt. Unwahrhaftig dagegen ist er, wenn er
diesem Gerücht die letzte Stelle in seiner Beweisführung einräumt. Für ihn
ist vielmehr dieses Gerücht -- beiläufig bemerkt eine wenig rühmliche Quelle
für die Ueberzeugung eines Kriminalisten -- zugleich mit den ans München
ihm gewordenen Anregungen die erste und entscheidende Veranlassung zu den
wilden Verdächtigungen seines Mmoire gewesen. Wenn so etwas allgemein
geflüstert wurde, durfte man schon wagen, die Sache so gut wie es ging als
"moralische Gewißheit" auch im Geheimen weiter zu flüstern: dieser Gesichts¬
punkt ist der Ausgangspunkt des Mmoire. Geht man nun aber dem angeb¬
lichen Verbrechen genauer nach, so zerrinnt es sofort zu einer Unsumme der
unednkbarsten und lächerlichsten Ungeheuerlichkeiten.

Denn zunächst müßte das Verbrechen der Beseitigung des badischen Erb¬
prinzen im Jahre 1812 verübt sein gegen die beiden lebenden Eltern des
Kindes, die zugleich regierende Fürsten Baden's waren, gegen Großherzog Karl
und seine Gemahlin Stephanie, die Adoptivtochter Napoleon's, der damals
noch auf der Hohe seiner Macht stand! Diesen Eltern soll man ihr Kind,
die theuerste Hoffnung ihres Herzens und ihres Landes gestohlen, dnrch einen
todten oder "sterbenden" Wechselbalg ersetzt haben, ohne daß sie den Betrug
merkten. Ihr ganzes Haus müßte in feindseligem Hasse gegen sie verschworen
gewesen sein. Und außerdem wachte am Bette des Kindes nicht blos der sehr
argwöhnische Vater, sondern auch die Markgräfin Amalie, die Mutter der
Kaiserin von Rußland, der Königinnen von Schweden und Baiern, eine hohe
gebietende Frau, von der Varnhagen wahrheitsgetreu meldet: "Ihr Wille galt
mehr als jeder andre, ihr Einfluß wirkte nah und fern ununterbrochen." Sie
Alle hätten nicht geahnt, welch tödtlicher Streich gegen sie geführt war! --
Und weiter: Diese That soll ausgegangen sein von der Reichsgräfin Hochberg,
die seit 1811 Wittwe war, ohne jeden Einfluß, ohne Gunst und Macht. Sie
sollte die zahllosen Werkzeuge zu ihrer That haben gewinnen können? Und
zu welcher That? Der Beseitigung des 1812 geborenen badischen Erbprinzen.
Aber was konnte diese That ihr nützen? Großherzog Karl war damals 26
Jahr alt. seine Gemahlin 24 Jahr. Mit dem einen Prinzen war das Ziel
ihrer angeblichen Pläne voraussichtlich keineswegs erreicht. Noch drei Kinder'


Grazboten II. 187S. 55

wie hinter einem durchsichtigen Schleier erkennbar wurde. Nur schade, daß
kaum eines der von dem scharfsinnigen augeführten Daten richtig ist, daß
namentlich das Geburtsjahr Kaspar's, wie unten gezeigt werden wird, höchst
wahrscheinlich in den „Geburtsnotizen" um sast zwei Jahre zu spät datirt ist.

Insofern bekennt Feuerbach offen die Schwäche seiner Beweisführung, als
er endlich auch das Gerücht, das von Baden nach Nürnberg herüberge¬
kommen, als Glied in der Kette seiner „moralischen Gewißheit" für das badische
Prinzenthum Kaspar Hauser's einstellt. Unwahrhaftig dagegen ist er, wenn er
diesem Gerücht die letzte Stelle in seiner Beweisführung einräumt. Für ihn
ist vielmehr dieses Gerücht — beiläufig bemerkt eine wenig rühmliche Quelle
für die Ueberzeugung eines Kriminalisten — zugleich mit den ans München
ihm gewordenen Anregungen die erste und entscheidende Veranlassung zu den
wilden Verdächtigungen seines Mmoire gewesen. Wenn so etwas allgemein
geflüstert wurde, durfte man schon wagen, die Sache so gut wie es ging als
«moralische Gewißheit" auch im Geheimen weiter zu flüstern: dieser Gesichts¬
punkt ist der Ausgangspunkt des Mmoire. Geht man nun aber dem angeb¬
lichen Verbrechen genauer nach, so zerrinnt es sofort zu einer Unsumme der
unednkbarsten und lächerlichsten Ungeheuerlichkeiten.

Denn zunächst müßte das Verbrechen der Beseitigung des badischen Erb¬
prinzen im Jahre 1812 verübt sein gegen die beiden lebenden Eltern des
Kindes, die zugleich regierende Fürsten Baden's waren, gegen Großherzog Karl
und seine Gemahlin Stephanie, die Adoptivtochter Napoleon's, der damals
noch auf der Hohe seiner Macht stand! Diesen Eltern soll man ihr Kind,
die theuerste Hoffnung ihres Herzens und ihres Landes gestohlen, dnrch einen
todten oder „sterbenden" Wechselbalg ersetzt haben, ohne daß sie den Betrug
merkten. Ihr ganzes Haus müßte in feindseligem Hasse gegen sie verschworen
gewesen sein. Und außerdem wachte am Bette des Kindes nicht blos der sehr
argwöhnische Vater, sondern auch die Markgräfin Amalie, die Mutter der
Kaiserin von Rußland, der Königinnen von Schweden und Baiern, eine hohe
gebietende Frau, von der Varnhagen wahrheitsgetreu meldet: „Ihr Wille galt
mehr als jeder andre, ihr Einfluß wirkte nah und fern ununterbrochen." Sie
Alle hätten nicht geahnt, welch tödtlicher Streich gegen sie geführt war! —
Und weiter: Diese That soll ausgegangen sein von der Reichsgräfin Hochberg,
die seit 1811 Wittwe war, ohne jeden Einfluß, ohne Gunst und Macht. Sie
sollte die zahllosen Werkzeuge zu ihrer That haben gewinnen können? Und
zu welcher That? Der Beseitigung des 1812 geborenen badischen Erbprinzen.
Aber was konnte diese That ihr nützen? Großherzog Karl war damals 26
Jahr alt. seine Gemahlin 24 Jahr. Mit dem einen Prinzen war das Ziel
ihrer angeblichen Pläne voraussichtlich keineswegs erreicht. Noch drei Kinder'


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/437>, abgerufen am 01.09.2024.