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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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wieder aus seinen Briefen an seine Angehörigen. Gerade über den Mangel
der Kräfte, die zu scharfem, konsequenten logischem Denken und Folgern am
nothwendigsten sind, klagt er, wie wir sehen werden, in dieser Zeit am meisten.
Was die Aerzte gefürchtet, trat am 25. Juli 1832 ein: ein zweiter Schlag¬
anfall. Ein dritter machte am 29. Mai 1833 seinem Leben ein Ende.

Alles was Feuerbach über Kaspar Hauser geschrieben hat, sällt in die
Zeit dieser stets wachsenden Krankheit und Untauglichkeit des Verfassers zu
abstrakten: Denken. Die einzige Zeit, in der Feuerbach, zwar körperlich auch
schon gebrochen, aber doch noch nicht gerade leidend, Kaspar Hauser beobachten,
über ihn mit ungetrübter Geistesschärfe nachdenken konnte, beschränkt sich, wie
oben gezeigt wurde, auf die dreiviertel Jahre vom Juli 1828 bis April 1829.
Es ist nun gewiß im hohen Grade charakteristisch, daß Feuerbach in diesen
letzten Monaten ungetrübter geistiger Gesundheit erstens alle die lebhaften
Zumuthungen seiner Freunde (des Tiedge'schen Kreises), etwas über Kaspar
Hauser zu schreiben ablehnte, da das mit seiner amtlichen Stellung als Gerichts¬
präsident unvereinbar sei, und daß er ferner Kaspar Hanser selbst mit tiefem
Mißtrauen in dessen Wahrhaftigkeit betrachtete und nicht im Mindesten daran
dachte, daß bei oder unmittelbar nach seiner Geburt, in seiner Jugend und bei
seiner Aussetzung irgend ein Verbrechen gegen Hauser verübt worden sein konnte.
Weder Feuerbach noch sonst irgend eine Behörde hat in der Zeit vom 26. Mai
1828 bis zum 17. Oktober 1829 -- als der erste sogen. Mordversuch gegen
Hauser verübt wurde -- irgend eine Untersuchung eingeleitet wegen Veränderung
des Personenstandes Hauser's bei oder nach der Geburt desselben, wegen wider¬
rechtlicher Gefangenhaltung, wegen Aussetzung desselben. Und die wegen des
angeblichen Mordversuch's im April 1829 eingeleitete und bis zum September
1831 fortgesetzte Untersuchung ergab mit Bestimmtheit, daß kein Mordversuch
sondern ein Unfall vorliege, In welchem Maße aber Feuerbach in der Fülle
seiner geistigen Kraft dem Nürnberger Findling gegenüber Zweifel und Be¬
denken hegte, geht klar hervor aus seinem Briefe vom 20. September 1828
an Elise von der Recke, den Ludwig Feuerbach im zweiten Bande seiner früher
genannten Biographie seines Vaters (S. 276) nuttheilt. Hier heißt es über
Hauser: "In der Geschichte seiner Gefangenhaltung und Transportirung nach
Nürnberg ist manches unglaublich und räthselhaft, gewiß auch manches
unwahr. Diese Geschichte wurde ihm abgefragt zu einer Zeit, wo er fast
noch keine Begriffe, kaum Vorstellungen von der Natur und menschlichen Dingen,
am wenigsten die gehörigen Worte dafür hatte, wo er also öfter in seinem
verworrenen Kauderwelsch etwas ganz anderes sagte, als er sagen wollte, oder
der Fragende Spielraum genug hatte, seine eigenen Gedanken, Meinungen und
Hypothesen deu ihm gegebenen Antworten unterzulegen. Außerdem aber habe


Grenzboten II. 1878. 54

wieder aus seinen Briefen an seine Angehörigen. Gerade über den Mangel
der Kräfte, die zu scharfem, konsequenten logischem Denken und Folgern am
nothwendigsten sind, klagt er, wie wir sehen werden, in dieser Zeit am meisten.
Was die Aerzte gefürchtet, trat am 25. Juli 1832 ein: ein zweiter Schlag¬
anfall. Ein dritter machte am 29. Mai 1833 seinem Leben ein Ende.

Alles was Feuerbach über Kaspar Hauser geschrieben hat, sällt in die
Zeit dieser stets wachsenden Krankheit und Untauglichkeit des Verfassers zu
abstrakten: Denken. Die einzige Zeit, in der Feuerbach, zwar körperlich auch
schon gebrochen, aber doch noch nicht gerade leidend, Kaspar Hauser beobachten,
über ihn mit ungetrübter Geistesschärfe nachdenken konnte, beschränkt sich, wie
oben gezeigt wurde, auf die dreiviertel Jahre vom Juli 1828 bis April 1829.
Es ist nun gewiß im hohen Grade charakteristisch, daß Feuerbach in diesen
letzten Monaten ungetrübter geistiger Gesundheit erstens alle die lebhaften
Zumuthungen seiner Freunde (des Tiedge'schen Kreises), etwas über Kaspar
Hauser zu schreiben ablehnte, da das mit seiner amtlichen Stellung als Gerichts¬
präsident unvereinbar sei, und daß er ferner Kaspar Hanser selbst mit tiefem
Mißtrauen in dessen Wahrhaftigkeit betrachtete und nicht im Mindesten daran
dachte, daß bei oder unmittelbar nach seiner Geburt, in seiner Jugend und bei
seiner Aussetzung irgend ein Verbrechen gegen Hauser verübt worden sein konnte.
Weder Feuerbach noch sonst irgend eine Behörde hat in der Zeit vom 26. Mai
1828 bis zum 17. Oktober 1829 — als der erste sogen. Mordversuch gegen
Hauser verübt wurde — irgend eine Untersuchung eingeleitet wegen Veränderung
des Personenstandes Hauser's bei oder nach der Geburt desselben, wegen wider¬
rechtlicher Gefangenhaltung, wegen Aussetzung desselben. Und die wegen des
angeblichen Mordversuch's im April 1829 eingeleitete und bis zum September
1831 fortgesetzte Untersuchung ergab mit Bestimmtheit, daß kein Mordversuch
sondern ein Unfall vorliege, In welchem Maße aber Feuerbach in der Fülle
seiner geistigen Kraft dem Nürnberger Findling gegenüber Zweifel und Be¬
denken hegte, geht klar hervor aus seinem Briefe vom 20. September 1828
an Elise von der Recke, den Ludwig Feuerbach im zweiten Bande seiner früher
genannten Biographie seines Vaters (S. 276) nuttheilt. Hier heißt es über
Hauser: „In der Geschichte seiner Gefangenhaltung und Transportirung nach
Nürnberg ist manches unglaublich und räthselhaft, gewiß auch manches
unwahr. Diese Geschichte wurde ihm abgefragt zu einer Zeit, wo er fast
noch keine Begriffe, kaum Vorstellungen von der Natur und menschlichen Dingen,
am wenigsten die gehörigen Worte dafür hatte, wo er also öfter in seinem
verworrenen Kauderwelsch etwas ganz anderes sagte, als er sagen wollte, oder
der Fragende Spielraum genug hatte, seine eigenen Gedanken, Meinungen und
Hypothesen deu ihm gegebenen Antworten unterzulegen. Außerdem aber habe


Grenzboten II. 1878. 54
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[0429] wieder aus seinen Briefen an seine Angehörigen. Gerade über den Mangel der Kräfte, die zu scharfem, konsequenten logischem Denken und Folgern am nothwendigsten sind, klagt er, wie wir sehen werden, in dieser Zeit am meisten. Was die Aerzte gefürchtet, trat am 25. Juli 1832 ein: ein zweiter Schlag¬ anfall. Ein dritter machte am 29. Mai 1833 seinem Leben ein Ende. Alles was Feuerbach über Kaspar Hauser geschrieben hat, sällt in die Zeit dieser stets wachsenden Krankheit und Untauglichkeit des Verfassers zu abstrakten: Denken. Die einzige Zeit, in der Feuerbach, zwar körperlich auch schon gebrochen, aber doch noch nicht gerade leidend, Kaspar Hauser beobachten, über ihn mit ungetrübter Geistesschärfe nachdenken konnte, beschränkt sich, wie oben gezeigt wurde, auf die dreiviertel Jahre vom Juli 1828 bis April 1829. Es ist nun gewiß im hohen Grade charakteristisch, daß Feuerbach in diesen letzten Monaten ungetrübter geistiger Gesundheit erstens alle die lebhaften Zumuthungen seiner Freunde (des Tiedge'schen Kreises), etwas über Kaspar Hauser zu schreiben ablehnte, da das mit seiner amtlichen Stellung als Gerichts¬ präsident unvereinbar sei, und daß er ferner Kaspar Hanser selbst mit tiefem Mißtrauen in dessen Wahrhaftigkeit betrachtete und nicht im Mindesten daran dachte, daß bei oder unmittelbar nach seiner Geburt, in seiner Jugend und bei seiner Aussetzung irgend ein Verbrechen gegen Hauser verübt worden sein konnte. Weder Feuerbach noch sonst irgend eine Behörde hat in der Zeit vom 26. Mai 1828 bis zum 17. Oktober 1829 — als der erste sogen. Mordversuch gegen Hauser verübt wurde — irgend eine Untersuchung eingeleitet wegen Veränderung des Personenstandes Hauser's bei oder nach der Geburt desselben, wegen wider¬ rechtlicher Gefangenhaltung, wegen Aussetzung desselben. Und die wegen des angeblichen Mordversuch's im April 1829 eingeleitete und bis zum September 1831 fortgesetzte Untersuchung ergab mit Bestimmtheit, daß kein Mordversuch sondern ein Unfall vorliege, In welchem Maße aber Feuerbach in der Fülle seiner geistigen Kraft dem Nürnberger Findling gegenüber Zweifel und Be¬ denken hegte, geht klar hervor aus seinem Briefe vom 20. September 1828 an Elise von der Recke, den Ludwig Feuerbach im zweiten Bande seiner früher genannten Biographie seines Vaters (S. 276) nuttheilt. Hier heißt es über Hauser: „In der Geschichte seiner Gefangenhaltung und Transportirung nach Nürnberg ist manches unglaublich und räthselhaft, gewiß auch manches unwahr. Diese Geschichte wurde ihm abgefragt zu einer Zeit, wo er fast noch keine Begriffe, kaum Vorstellungen von der Natur und menschlichen Dingen, am wenigsten die gehörigen Worte dafür hatte, wo er also öfter in seinem verworrenen Kauderwelsch etwas ganz anderes sagte, als er sagen wollte, oder der Fragende Spielraum genug hatte, seine eigenen Gedanken, Meinungen und Hypothesen deu ihm gegebenen Antworten unterzulegen. Außerdem aber habe Grenzboten II. 1878. 54

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/429>, abgerufen am 01.09.2024.