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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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gehen, also dann, wenn mau nach unserem Vorschlage in Oberprima die künftigen
Humanisten und Realisten -- um kurz zu sprechen -- im mathematisch-natur¬
wissenschaftlichen Unterrichte trennt, ohne Schwierigkeit erreichbar sein würden.

Wir wenden uns zu dem, was an zweiter Stelle die Realschnlbildung
von der humanistischen scheidet, wovon aber Du Bois-Reymond nicht weiter
handelt, zu den neueren Sprachen. Gerade in der Stellung, welche dieselben
jetzt im Organismus der Realschulen einnehmen, sehen wir ein prinzipielles
Gebrechen derselben. Sie sind in ihn eingeführt worden zunächst aus rein
Praktischen Gesichtspunkten; je mehr man aber auf Gleichstellung dieser Anstalten
mit den Gymnasien ausging, desto mehr hat man sich gedrängt gesehen, dem
Englischen und Französischen die Stellung und Bedeutung anzuweisen, welche
Griechisch und Lateinisch im Gymnasium beanspruchen und behaupten; man
möchte die antike Literatur ersetzen durch die englische und französische. Nun
ist gewiß die erstere und in mancher Beziehung auch die letztere wenigstens der
lateinischen an Gehalt überlegen, aber wir fragen zunächst: welchem andern
Culturvolke der Gegenwart fällt es denn ein, der Literatur und Sprache eines
fremden, modernen Volkes einen solchen Einfluß auf die Bildung seiner Jugend
einräumen zu wollen? Nimmt etwa in Frankreich oder in England das Deutsche
die Stellung ein, welche unsere Realschule für das Französische beansprucht?
Die antike Cultur ist die gemeinsame Wurzel aller modernen; die englische,
deutsche, französische sind Zweige am Bcnune der modernen Gesammtkultur.
Niemals kann also die Cultur eines modernen Einzelvolkes dieselbe grundlegende
Bedeutung beanspruchen, wie die antike. Was für die Cultur im Allgemeinen
gilt, gilt für die Literatur im Besondern. Daraus folgt naturgemäß, daß die
künftige einheitliche Mittelschule dem Französischen eine so bevorzugte Stellung,
wie einer der beiden klassischen Sprachen grundsätzlich niemals einräumen darf,
selbst wenn die Zeit es gestattete. Die gegenwärtige Stellung des Französischen
am Gymnasium mit seinen 2 Stunden durchschnittlich ist nun freilich eine sehr
mäßige, um nicht zu sagen gedrückte, und versteht es vollends der Lehrer nicht,
den Schülern lebendiges Interesse einzuflößen und seine Sache auch sonst wirk¬
sam zu vertreten, so spielt das ganze Fach häufig genug ein wahrhaft traurige
Rolle. Und doch ist unzweifelhaft die Bedeutung der französischen Literatur
für unsere eigne so groß, daß ihre Kenntniß allein das wirkliche Verständniß
ganzer großer Partien der deutschen Literaturgeschichte ermöglicht; wir erinnern
in dieser Beziehung an Lessings Kampf gegen das französische Vorbild, an die
ganze ihm vorausgehende Periode der Nachahmung. Die praktische Wichtigkeit
der Sprache kommt hinzu. Wir halten also aus diesen Gründen eine mäßige
Verstärkung des französischen Unterrichts im reformirten Gymnasium für noth¬
wendig, nicht bis zu der Stundenzahl, welche die Realschule für ihn in Anspruch


Grenzboten II. 1378. 52

gehen, also dann, wenn mau nach unserem Vorschlage in Oberprima die künftigen
Humanisten und Realisten — um kurz zu sprechen — im mathematisch-natur¬
wissenschaftlichen Unterrichte trennt, ohne Schwierigkeit erreichbar sein würden.

Wir wenden uns zu dem, was an zweiter Stelle die Realschnlbildung
von der humanistischen scheidet, wovon aber Du Bois-Reymond nicht weiter
handelt, zu den neueren Sprachen. Gerade in der Stellung, welche dieselben
jetzt im Organismus der Realschulen einnehmen, sehen wir ein prinzipielles
Gebrechen derselben. Sie sind in ihn eingeführt worden zunächst aus rein
Praktischen Gesichtspunkten; je mehr man aber auf Gleichstellung dieser Anstalten
mit den Gymnasien ausging, desto mehr hat man sich gedrängt gesehen, dem
Englischen und Französischen die Stellung und Bedeutung anzuweisen, welche
Griechisch und Lateinisch im Gymnasium beanspruchen und behaupten; man
möchte die antike Literatur ersetzen durch die englische und französische. Nun
ist gewiß die erstere und in mancher Beziehung auch die letztere wenigstens der
lateinischen an Gehalt überlegen, aber wir fragen zunächst: welchem andern
Culturvolke der Gegenwart fällt es denn ein, der Literatur und Sprache eines
fremden, modernen Volkes einen solchen Einfluß auf die Bildung seiner Jugend
einräumen zu wollen? Nimmt etwa in Frankreich oder in England das Deutsche
die Stellung ein, welche unsere Realschule für das Französische beansprucht?
Die antike Cultur ist die gemeinsame Wurzel aller modernen; die englische,
deutsche, französische sind Zweige am Bcnune der modernen Gesammtkultur.
Niemals kann also die Cultur eines modernen Einzelvolkes dieselbe grundlegende
Bedeutung beanspruchen, wie die antike. Was für die Cultur im Allgemeinen
gilt, gilt für die Literatur im Besondern. Daraus folgt naturgemäß, daß die
künftige einheitliche Mittelschule dem Französischen eine so bevorzugte Stellung,
wie einer der beiden klassischen Sprachen grundsätzlich niemals einräumen darf,
selbst wenn die Zeit es gestattete. Die gegenwärtige Stellung des Französischen
am Gymnasium mit seinen 2 Stunden durchschnittlich ist nun freilich eine sehr
mäßige, um nicht zu sagen gedrückte, und versteht es vollends der Lehrer nicht,
den Schülern lebendiges Interesse einzuflößen und seine Sache auch sonst wirk¬
sam zu vertreten, so spielt das ganze Fach häufig genug ein wahrhaft traurige
Rolle. Und doch ist unzweifelhaft die Bedeutung der französischen Literatur
für unsere eigne so groß, daß ihre Kenntniß allein das wirkliche Verständniß
ganzer großer Partien der deutschen Literaturgeschichte ermöglicht; wir erinnern
in dieser Beziehung an Lessings Kampf gegen das französische Vorbild, an die
ganze ihm vorausgehende Periode der Nachahmung. Die praktische Wichtigkeit
der Sprache kommt hinzu. Wir halten also aus diesen Gründen eine mäßige
Verstärkung des französischen Unterrichts im reformirten Gymnasium für noth¬
wendig, nicht bis zu der Stundenzahl, welche die Realschule für ihn in Anspruch


Grenzboten II. 1378. 52
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[0413] gehen, also dann, wenn mau nach unserem Vorschlage in Oberprima die künftigen Humanisten und Realisten — um kurz zu sprechen — im mathematisch-natur¬ wissenschaftlichen Unterrichte trennt, ohne Schwierigkeit erreichbar sein würden. Wir wenden uns zu dem, was an zweiter Stelle die Realschnlbildung von der humanistischen scheidet, wovon aber Du Bois-Reymond nicht weiter handelt, zu den neueren Sprachen. Gerade in der Stellung, welche dieselben jetzt im Organismus der Realschulen einnehmen, sehen wir ein prinzipielles Gebrechen derselben. Sie sind in ihn eingeführt worden zunächst aus rein Praktischen Gesichtspunkten; je mehr man aber auf Gleichstellung dieser Anstalten mit den Gymnasien ausging, desto mehr hat man sich gedrängt gesehen, dem Englischen und Französischen die Stellung und Bedeutung anzuweisen, welche Griechisch und Lateinisch im Gymnasium beanspruchen und behaupten; man möchte die antike Literatur ersetzen durch die englische und französische. Nun ist gewiß die erstere und in mancher Beziehung auch die letztere wenigstens der lateinischen an Gehalt überlegen, aber wir fragen zunächst: welchem andern Culturvolke der Gegenwart fällt es denn ein, der Literatur und Sprache eines fremden, modernen Volkes einen solchen Einfluß auf die Bildung seiner Jugend einräumen zu wollen? Nimmt etwa in Frankreich oder in England das Deutsche die Stellung ein, welche unsere Realschule für das Französische beansprucht? Die antike Cultur ist die gemeinsame Wurzel aller modernen; die englische, deutsche, französische sind Zweige am Bcnune der modernen Gesammtkultur. Niemals kann also die Cultur eines modernen Einzelvolkes dieselbe grundlegende Bedeutung beanspruchen, wie die antike. Was für die Cultur im Allgemeinen gilt, gilt für die Literatur im Besondern. Daraus folgt naturgemäß, daß die künftige einheitliche Mittelschule dem Französischen eine so bevorzugte Stellung, wie einer der beiden klassischen Sprachen grundsätzlich niemals einräumen darf, selbst wenn die Zeit es gestattete. Die gegenwärtige Stellung des Französischen am Gymnasium mit seinen 2 Stunden durchschnittlich ist nun freilich eine sehr mäßige, um nicht zu sagen gedrückte, und versteht es vollends der Lehrer nicht, den Schülern lebendiges Interesse einzuflößen und seine Sache auch sonst wirk¬ sam zu vertreten, so spielt das ganze Fach häufig genug ein wahrhaft traurige Rolle. Und doch ist unzweifelhaft die Bedeutung der französischen Literatur für unsere eigne so groß, daß ihre Kenntniß allein das wirkliche Verständniß ganzer großer Partien der deutschen Literaturgeschichte ermöglicht; wir erinnern in dieser Beziehung an Lessings Kampf gegen das französische Vorbild, an die ganze ihm vorausgehende Periode der Nachahmung. Die praktische Wichtigkeit der Sprache kommt hinzu. Wir halten also aus diesen Gründen eine mäßige Verstärkung des französischen Unterrichts im reformirten Gymnasium für noth¬ wendig, nicht bis zu der Stundenzahl, welche die Realschule für ihn in Anspruch Grenzboten II. 1378. 52

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/413>, abgerufen am 01.09.2024.