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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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erreicht werden kann, weil die Erlernung einer fremden Sprache um so bildungs¬
kräftiger wirkt, je ferner diese der Muttersprache steht, je größere geistige An¬
strengung also die Uebersetzung aus der einen in die andere erfordert, das Franzö¬
sische aber eben als moderne Sprache dem Deutschen näher steht als das
Lateinische oder Griechische.

Von solchen Erwägungen aus können wir die Realschule I. Ordnung als
die Grundlage einer einheitlichen Mittelschule nicht betrachten. Denn das wird
Niemand behaupten, daß das Latein allein und die Lektüre der paar leichten
Autoren, welche auf der Realschule erreicht werden kann, irgend wie in das
antike Leben genügend einführt, oder daß Surrogate, wie Lektüre von Über¬
setzungen, selbst wenn sie in größerer Ausdehnung möglich wäre, hierin etwas
Erhebliches ändern. Und was ist eine Einführung in das Alterthum werth,
die die griechische Welt nur durch die römische Brille erblicken läßt? Außer¬
dem entbehrt die Realschule, da sie den praktischen Bedürfnissen, aus denen
allein sie entstanden ist, beständig sich anbequemen mußte, noch allzusehr der
festen Tradition; sie hat die Zahl ihrer Unterrichtsgegenstände ans demselben
Grunde beständig gesteigert und dadurch unzweifelhaft eine schwere Ueber-
lastung ihrer Schüler herbeigeführt.

Es kaun also nicht die Realschule, sondern nur das Gymnasium die
Grundlage für die einheitliche Mittelschule abgeben. Doch nur das refor-
mirte Gymnasium vermag diese Schule zu werdeu.

Du Bois-Reymond will in dieser Beziehung: Beschränkung der alten, Ver¬
stärkung der modernen Bildungsmittel, er fordert deshalb, um Raum für die
letzteren zu schaffen, weniger grammatische Behandlung des Griechischen, rühmt
dagegen die logische Kraft des Latein. Wir möchten dies etwas genauer präzisiren.

Der Unterricht in den beiden klassischen Sprachen verfolgt offenbar zwei
Hauptzwecke: logische Schulung durch die Grammatik und Einführung in die
Hauptwerke der antiken Literatur, soweit sie dem Schüler überhaupt zugänglich
ist. Das Vorhandensein dieses doppelten Zwecks stellt prinzipiell auch Nie¬
mand in Abrede, praktisch aber überwiegt nur zu häufig der erste Gesichtspunkt
und nicht gar selten wird die Reife eines jungen Menschen für das akademische
Studium bemessen nach der Zahl der Fvrmenfehler, die er in der griechischen
Examenarbeit gesündigt hat. Und doch liegt ans der Hand, daß diese gram¬
matische Schulung heute viel geringere Erfolge aufzuweisen hat und aufzuweisen
haben muß -- weil eben die ganze geistige Atmosphäre eine andere geworden --
als in früherer Zeit, trotz der weit vorgeschrittenen Kenntniß der alten Sprachen,
wenn nicht gar, wie einzelne behaupten wollen, eben wegen derselben.*) Um



*) In dieser Beziehung sagt ein Aufsatz der (Augsburger) Allgemeinen Zeitung 1373
Ur 87 sehr Bchcrzigenswerthcs (Das Gymnasium und die Spezialisirung der Wissenschaften).

erreicht werden kann, weil die Erlernung einer fremden Sprache um so bildungs¬
kräftiger wirkt, je ferner diese der Muttersprache steht, je größere geistige An¬
strengung also die Uebersetzung aus der einen in die andere erfordert, das Franzö¬
sische aber eben als moderne Sprache dem Deutschen näher steht als das
Lateinische oder Griechische.

Von solchen Erwägungen aus können wir die Realschule I. Ordnung als
die Grundlage einer einheitlichen Mittelschule nicht betrachten. Denn das wird
Niemand behaupten, daß das Latein allein und die Lektüre der paar leichten
Autoren, welche auf der Realschule erreicht werden kann, irgend wie in das
antike Leben genügend einführt, oder daß Surrogate, wie Lektüre von Über¬
setzungen, selbst wenn sie in größerer Ausdehnung möglich wäre, hierin etwas
Erhebliches ändern. Und was ist eine Einführung in das Alterthum werth,
die die griechische Welt nur durch die römische Brille erblicken läßt? Außer¬
dem entbehrt die Realschule, da sie den praktischen Bedürfnissen, aus denen
allein sie entstanden ist, beständig sich anbequemen mußte, noch allzusehr der
festen Tradition; sie hat die Zahl ihrer Unterrichtsgegenstände ans demselben
Grunde beständig gesteigert und dadurch unzweifelhaft eine schwere Ueber-
lastung ihrer Schüler herbeigeführt.

Es kaun also nicht die Realschule, sondern nur das Gymnasium die
Grundlage für die einheitliche Mittelschule abgeben. Doch nur das refor-
mirte Gymnasium vermag diese Schule zu werdeu.

Du Bois-Reymond will in dieser Beziehung: Beschränkung der alten, Ver¬
stärkung der modernen Bildungsmittel, er fordert deshalb, um Raum für die
letzteren zu schaffen, weniger grammatische Behandlung des Griechischen, rühmt
dagegen die logische Kraft des Latein. Wir möchten dies etwas genauer präzisiren.

Der Unterricht in den beiden klassischen Sprachen verfolgt offenbar zwei
Hauptzwecke: logische Schulung durch die Grammatik und Einführung in die
Hauptwerke der antiken Literatur, soweit sie dem Schüler überhaupt zugänglich
ist. Das Vorhandensein dieses doppelten Zwecks stellt prinzipiell auch Nie¬
mand in Abrede, praktisch aber überwiegt nur zu häufig der erste Gesichtspunkt
und nicht gar selten wird die Reife eines jungen Menschen für das akademische
Studium bemessen nach der Zahl der Fvrmenfehler, die er in der griechischen
Examenarbeit gesündigt hat. Und doch liegt ans der Hand, daß diese gram¬
matische Schulung heute viel geringere Erfolge aufzuweisen hat und aufzuweisen
haben muß — weil eben die ganze geistige Atmosphäre eine andere geworden —
als in früherer Zeit, trotz der weit vorgeschrittenen Kenntniß der alten Sprachen,
wenn nicht gar, wie einzelne behaupten wollen, eben wegen derselben.*) Um



*) In dieser Beziehung sagt ein Aufsatz der (Augsburger) Allgemeinen Zeitung 1373
Ur 87 sehr Bchcrzigenswerthcs (Das Gymnasium und die Spezialisirung der Wissenschaften).
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/408>, abgerufen am 01.09.2024.