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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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ihrem Standpunkte aus Niemand verargen wird, auf immer größere Ausdeh¬
nung der "Berechtigungen" ihrer Abiturienten; sie haben bereits für neuere
Sprachen und Mathematik ihnen die Befugniß zum Universitätsstudium er¬
rungen, und eben hat eine von Duisburg ausgegangene und durch ganz Deutsch¬
land verbreitete Petition an den Reichstag den Zutritt derselben auch zum
Studium der Medizin gefordert.

Wir sagen es grad heraus: Wir halten diese Spaltung des Bildungs¬
weges unsrer wissenschaftlichen Berufe nicht nur für einen Luxus, sondern auch
für ein Unglück.

Oder ist es etwa ein Vortheil, daß der Naturwissenschafter und Mathe¬
matiker oder Techniker, wenn er in die Praxis übertritt, von der Entwicklung
seines eignen Vaterlandes nur wenige dürftige und oft genug falsche Begriffe
hat, oder daß der Philologe gesteht, er habe von der Einrichtung einer Dampf¬
maschine keine Ahnung? Beide sind in dieser Lage nicht etwa deshalb, weil
ihre Schulen ihnen nicht die Gelegenheit geboten hätten, das eine oder das
andere zu lernen -- denn davon kann jetzt nicht wohl mehr die Rede sein --
sondern weil das einseitige Interesse, das früher in ihnen erregt worden, ihren
Gesichtskreis verengert, sie theilnahmslos gegen das gemacht hat, was außer¬
halb ihres eigenen Zirkels vorgeht. So aber steht es bereits häufig genug.
Wie sollen nun vollends Männer dieser Richtungen, wenn sie als Lehrer auf¬
zutreten haben, einheitlich auf den Geist der ihnen anvertrauten Jugend wirken,
wenn ihnen nicht nur jedes Verständniß, sondern sogar jedes Interesse an dem andern
"Fache" fehlt? Dann kann das entstehen, was Fürst Bismarck einmal auf
anderem Gebiete "Ressortpatriotismus" nannte, jenes Streben, das eigne
"Fach", unbekümmert um seine Stellung im Organismus der Anstalt, möglichst
zu betonen, Schülern und Kollegen gegenüber, und zumeist auf Kosten der
Arbeitskraft der ersteren. Aber diese Gegensätze müssen für die gesammte höhere
Bildung dieselben Folgen haben, und je mehr jene sich verschärfen, desto be¬
denklicher werden diese sich gestalten. Mehr als je drohen bereits unsere
"Gebildeten" in zwei Massen anseinanderzufallen, die auf völlig verschiedener
Grundlage stehen und sich eben deshalb gegenseitig nicht mehr recht verstehen.
Den einen gilt schon die Pflege idealer Interessen für eitel Verschwendung,
den andern für heilige Pflicht, Wollen wir diese Gefahr noch dadurch ver¬
größern, daß wir auch die künftigen Vertreter der Wissenschaft in zwei von
vornherein völlig getrennte Gruppen zerfallen lassen, wie das bei der Heraus- ?
bildung vollständiger Parallelisirung unsers höheren Unterrichts gar nicht aus¬
bleiben kann? Und wie nun, wenn dem andrängenden praktischen Bedürfniß
unserer Zeit folgend der realistische Bildungsgang einmal völlig das Ueberge¬
wicht gewönne? Das würde unzweifelhaft den Sieg jener Richtung bedeuten,


ihrem Standpunkte aus Niemand verargen wird, auf immer größere Ausdeh¬
nung der „Berechtigungen" ihrer Abiturienten; sie haben bereits für neuere
Sprachen und Mathematik ihnen die Befugniß zum Universitätsstudium er¬
rungen, und eben hat eine von Duisburg ausgegangene und durch ganz Deutsch¬
land verbreitete Petition an den Reichstag den Zutritt derselben auch zum
Studium der Medizin gefordert.

Wir sagen es grad heraus: Wir halten diese Spaltung des Bildungs¬
weges unsrer wissenschaftlichen Berufe nicht nur für einen Luxus, sondern auch
für ein Unglück.

Oder ist es etwa ein Vortheil, daß der Naturwissenschafter und Mathe¬
matiker oder Techniker, wenn er in die Praxis übertritt, von der Entwicklung
seines eignen Vaterlandes nur wenige dürftige und oft genug falsche Begriffe
hat, oder daß der Philologe gesteht, er habe von der Einrichtung einer Dampf¬
maschine keine Ahnung? Beide sind in dieser Lage nicht etwa deshalb, weil
ihre Schulen ihnen nicht die Gelegenheit geboten hätten, das eine oder das
andere zu lernen — denn davon kann jetzt nicht wohl mehr die Rede sein —
sondern weil das einseitige Interesse, das früher in ihnen erregt worden, ihren
Gesichtskreis verengert, sie theilnahmslos gegen das gemacht hat, was außer¬
halb ihres eigenen Zirkels vorgeht. So aber steht es bereits häufig genug.
Wie sollen nun vollends Männer dieser Richtungen, wenn sie als Lehrer auf¬
zutreten haben, einheitlich auf den Geist der ihnen anvertrauten Jugend wirken,
wenn ihnen nicht nur jedes Verständniß, sondern sogar jedes Interesse an dem andern
„Fache" fehlt? Dann kann das entstehen, was Fürst Bismarck einmal auf
anderem Gebiete „Ressortpatriotismus" nannte, jenes Streben, das eigne
„Fach", unbekümmert um seine Stellung im Organismus der Anstalt, möglichst
zu betonen, Schülern und Kollegen gegenüber, und zumeist auf Kosten der
Arbeitskraft der ersteren. Aber diese Gegensätze müssen für die gesammte höhere
Bildung dieselben Folgen haben, und je mehr jene sich verschärfen, desto be¬
denklicher werden diese sich gestalten. Mehr als je drohen bereits unsere
„Gebildeten" in zwei Massen anseinanderzufallen, die auf völlig verschiedener
Grundlage stehen und sich eben deshalb gegenseitig nicht mehr recht verstehen.
Den einen gilt schon die Pflege idealer Interessen für eitel Verschwendung,
den andern für heilige Pflicht, Wollen wir diese Gefahr noch dadurch ver¬
größern, daß wir auch die künftigen Vertreter der Wissenschaft in zwei von
vornherein völlig getrennte Gruppen zerfallen lassen, wie das bei der Heraus- ?
bildung vollständiger Parallelisirung unsers höheren Unterrichts gar nicht aus¬
bleiben kann? Und wie nun, wenn dem andrängenden praktischen Bedürfniß
unserer Zeit folgend der realistische Bildungsgang einmal völlig das Ueberge¬
wicht gewönne? Das würde unzweifelhaft den Sieg jener Richtung bedeuten,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/406>, abgerufen am 29.12.2024.