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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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führen, welche sich die Berliner Führer zuletzt auferlegten. Wie tief der
religiöse Sinn im Volke noch haftet, zeigt der Umstand, daß selbst in Berlin die
mit soviel Lärmen und Rumoren eingeleitete Agitation für Austritt aus der
Landeskirche kaum nennenswerthe Resultate gehabt hat.

Nicht minder kläglich verlief eine andere Agitation der Partei. Bekannt¬
lich kündete Liebknecht schon vor Monaten in einem Schreiben an ein englisches
Tvryblatt an, daß große Massenmeetings von Arbeitern stattfinden sollten, um
gegen die russenfreuudliche Politik des deutschen Reichs zu prorestireu, daß
seine Fraktion im Reichstage eine Jnterpellation über die orientalischen Ange¬
legenheiten "erzwingen" werde. Liebknecht ist der auswärtige Minister der
deutschen Sozialdemokratie; allerdings sind nur Preußenhaß und Russophobie
die Maßstäbe, mit denen er die Weltpolitik mißt. Beiläufig liegt in seiner
zärtlichen Fürsorge für die englischen und türkischen Interessen, in seinein
blinden Hasse gegen Preußen und Rußland ein reizendes Stück historischer
Komik; England ist der ausgeprägteste Bourgeois- und die Türkei der einzige
Sklavenstaat auf europäischem Boden; dagegen sah dasselbe Jahrzehnt in Ru߬
land die Aufhebung der Leibeigenschaft und in Deutschland die Verleihung des
allgemeinen Stimmrechts. Die sozialdemokratische Agitation gegen die frei¬
willigen Vasnllendienste, welche das deutsche Reich dem russischen Nachbar
leisten soll, wurde vom "Vorwärts", dem offiziellen Parteiblatte, mit der mas¬
siven Verleumdung eröffnet, daß zweitausend Soldaten der deutschen Armee
nach Rumänien geschickt seien, um zum russischen Heere zu stoßen; die blöd¬
sinnige Lüge wurde mit solcher Hartnäckigkeit wiederholt, daß die maßgebende
Parteibehörde, das Centralwahlkomiti; in Hamburg, sich veranlaßt sah, sie aus
seinem eigenen gesunden Menschenverstande heraus zu dementiren. Es folgten
dann einige Volksversammlungen, welche zwar der Orientpolitik des Reichs¬
kanzlers feierliche Mißtrauensvota spendeten, aber keineswegs so imposante
Demonstrationen waren, wie in der englischen Presse annoncirt war. So
blieben nur noch die Donnerkeile, welche im Reichstage geschleudert werden
sollten. Allein auch hier hatte Liebknecht bekanntlich das Nachsehen; er brauchte
nichts zu "erzwingen", was für ihn insofern sehr günstig war, als er wohl
nichts "erzwungen" hätte und nach der bekannten Rede des Reichskanzlers
blieb ihm nur noch übrig, seine allgemeine Unzufriedenheit mit dem Weltlaufe
des letzten Jahrzehnts kundzugeben, eine Aufgabe, bereu er sich mit einem ge¬
wissen esxrit ä'Wviüikr entledigte. Die an sich unbedeutende Episode ist kenn¬
zeichnend für die Vaterlandsliebe der deutschen Sozialdemokratie; englische,
französische, italienische Sozialisten hätten unter ähnlichen Umständen niemals
ähnlich gehandelt.

Einen glücklicheren Treffer zog die Partei mit einer immerhin großartige"


führen, welche sich die Berliner Führer zuletzt auferlegten. Wie tief der
religiöse Sinn im Volke noch haftet, zeigt der Umstand, daß selbst in Berlin die
mit soviel Lärmen und Rumoren eingeleitete Agitation für Austritt aus der
Landeskirche kaum nennenswerthe Resultate gehabt hat.

Nicht minder kläglich verlief eine andere Agitation der Partei. Bekannt¬
lich kündete Liebknecht schon vor Monaten in einem Schreiben an ein englisches
Tvryblatt an, daß große Massenmeetings von Arbeitern stattfinden sollten, um
gegen die russenfreuudliche Politik des deutschen Reichs zu prorestireu, daß
seine Fraktion im Reichstage eine Jnterpellation über die orientalischen Ange¬
legenheiten „erzwingen" werde. Liebknecht ist der auswärtige Minister der
deutschen Sozialdemokratie; allerdings sind nur Preußenhaß und Russophobie
die Maßstäbe, mit denen er die Weltpolitik mißt. Beiläufig liegt in seiner
zärtlichen Fürsorge für die englischen und türkischen Interessen, in seinein
blinden Hasse gegen Preußen und Rußland ein reizendes Stück historischer
Komik; England ist der ausgeprägteste Bourgeois- und die Türkei der einzige
Sklavenstaat auf europäischem Boden; dagegen sah dasselbe Jahrzehnt in Ru߬
land die Aufhebung der Leibeigenschaft und in Deutschland die Verleihung des
allgemeinen Stimmrechts. Die sozialdemokratische Agitation gegen die frei¬
willigen Vasnllendienste, welche das deutsche Reich dem russischen Nachbar
leisten soll, wurde vom „Vorwärts", dem offiziellen Parteiblatte, mit der mas¬
siven Verleumdung eröffnet, daß zweitausend Soldaten der deutschen Armee
nach Rumänien geschickt seien, um zum russischen Heere zu stoßen; die blöd¬
sinnige Lüge wurde mit solcher Hartnäckigkeit wiederholt, daß die maßgebende
Parteibehörde, das Centralwahlkomiti; in Hamburg, sich veranlaßt sah, sie aus
seinem eigenen gesunden Menschenverstande heraus zu dementiren. Es folgten
dann einige Volksversammlungen, welche zwar der Orientpolitik des Reichs¬
kanzlers feierliche Mißtrauensvota spendeten, aber keineswegs so imposante
Demonstrationen waren, wie in der englischen Presse annoncirt war. So
blieben nur noch die Donnerkeile, welche im Reichstage geschleudert werden
sollten. Allein auch hier hatte Liebknecht bekanntlich das Nachsehen; er brauchte
nichts zu „erzwingen", was für ihn insofern sehr günstig war, als er wohl
nichts „erzwungen" hätte und nach der bekannten Rede des Reichskanzlers
blieb ihm nur noch übrig, seine allgemeine Unzufriedenheit mit dem Weltlaufe
des letzten Jahrzehnts kundzugeben, eine Aufgabe, bereu er sich mit einem ge¬
wissen esxrit ä'Wviüikr entledigte. Die an sich unbedeutende Episode ist kenn¬
zeichnend für die Vaterlandsliebe der deutschen Sozialdemokratie; englische,
französische, italienische Sozialisten hätten unter ähnlichen Umständen niemals
ähnlich gehandelt.

Einen glücklicheren Treffer zog die Partei mit einer immerhin großartige»


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/36>, abgerufen am 01.09.2024.