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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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Tag, an welchem die Lippen besiegeln, was das Herz empfunden, was das
Auge ausgedrückt hat und was die Geliebte doch nicht hat verstehen wollen.
Ja, es kommt ein Tag, wo das Herz überfließt und man dem entfesselten
Wildbach vergeblich zuruft: nicht weiter! Es giebt etwas, das erhaben ist über
alle Schranken der Welt, über alle berechneten Launen einer Frau, das ist die
wahre, tiefe, übermächtige Liebe; die Liebe, die keine Grenzen kennt, die jedes
Hinderniß besiegt, und die daher, wenn man sie in Banden schlagen will,
nothwendig die Brust zerstören muß, die sie aufgenommen, erwärmt und ge¬
wahrt hat."

"Hier meine Hand!" rief Flaviano bewegt. Und er drückte die glühende
Hand, die ihm Emanuel entgegenstreckte.

Natürlich erklärt Julie diesem unerwarteten Männerbündniß gegenüber,
"daß alle Männer anmaßend sind; daß sie in diesem Kampf um das Glück
nur an sich selbst denken und eben darum kein Verständniß für das Herz einer
Frau besitzen". Sie muß doch ihren Standpunkt wahren. Aber sie beginnt
fortan nie mehr diese Art von "academischen Gesprächen".

In der Fülle feiner psychologischer Beobachtung, welche der Roman
bietet, ist diese Annäherung zweier edler Nebenbuhler im kritischsten Moment,
>vo ein gewöhnlicher Romanschriftsteller unfehlbar das so beliebte Auskunfts¬
mittel des Duells und die Ohnmacht der Angebeteten hätte eintreten lassen,
einer der feinsten und wahrsten Züge. Der kommende Tag schmilzt das Eis
in den Herzen Beider vollständig. Ans einer sonnigen Frühwanderung nach
dem Gebirgsgipfel über Val d'Olivi geloben sich die beiden Nebenbuhler die
wahre Freundschaft großer Seelen. Jeder von Beiden ist erfüllt von der Ueber¬
zeugung, daß die Entsagung dieser Frau gegenüber, das Bewußtsein nicht ge¬
liebt zu werden, ihm das Leben werthlos, den Tod süß machen müsse. Und
doch geloben sie sich gegenseitig, daß Derjenige, der erkenne, der Andere werde
bevorzugt, neidlos zurücktreten müsse. --

In jenen trüben Stunden, da Emanuel zuerst den Nebenbuhler in Val
d'Olivi auftauchen sah, den feinen, welterfahrenen Mann, dessen Sieg bei Julia
ihm damals zweifellos schien, hatte er gegenüber dem Onkel den Wunsch ge¬
äußert, beim Stapellauf des neuen Dreimasters Donna Julia, den der Onkel
baute, mit nach Genua reisen zu dürfen. Die Mutter Emanuels, die wohl
erkannte, was den Sohn nach Val d'Olivi ziehe und von der Aussichtslosigkeit seiner
Hoffnungen beimAuftauchen des Grafen Flaviano gleichfalls überzeugt war, drüugte
ihren Bruder, den damals geäußerten Wunsch Emanuel's zu erfüllen. Nun,
da Emanuel durch das EinVerständniß mit Flaviano gleicher Kampf in Val
d'Olivi möglich wäre, nimmt ihn der Onkel beim Wort. Wenn er nicht zur
Unzeit sein Geheimniß verrathen will, muß er gehorchen. Er thut es. Er reist


Tag, an welchem die Lippen besiegeln, was das Herz empfunden, was das
Auge ausgedrückt hat und was die Geliebte doch nicht hat verstehen wollen.
Ja, es kommt ein Tag, wo das Herz überfließt und man dem entfesselten
Wildbach vergeblich zuruft: nicht weiter! Es giebt etwas, das erhaben ist über
alle Schranken der Welt, über alle berechneten Launen einer Frau, das ist die
wahre, tiefe, übermächtige Liebe; die Liebe, die keine Grenzen kennt, die jedes
Hinderniß besiegt, und die daher, wenn man sie in Banden schlagen will,
nothwendig die Brust zerstören muß, die sie aufgenommen, erwärmt und ge¬
wahrt hat."

„Hier meine Hand!" rief Flaviano bewegt. Und er drückte die glühende
Hand, die ihm Emanuel entgegenstreckte.

Natürlich erklärt Julie diesem unerwarteten Männerbündniß gegenüber,
„daß alle Männer anmaßend sind; daß sie in diesem Kampf um das Glück
nur an sich selbst denken und eben darum kein Verständniß für das Herz einer
Frau besitzen". Sie muß doch ihren Standpunkt wahren. Aber sie beginnt
fortan nie mehr diese Art von „academischen Gesprächen".

In der Fülle feiner psychologischer Beobachtung, welche der Roman
bietet, ist diese Annäherung zweier edler Nebenbuhler im kritischsten Moment,
>vo ein gewöhnlicher Romanschriftsteller unfehlbar das so beliebte Auskunfts¬
mittel des Duells und die Ohnmacht der Angebeteten hätte eintreten lassen,
einer der feinsten und wahrsten Züge. Der kommende Tag schmilzt das Eis
in den Herzen Beider vollständig. Ans einer sonnigen Frühwanderung nach
dem Gebirgsgipfel über Val d'Olivi geloben sich die beiden Nebenbuhler die
wahre Freundschaft großer Seelen. Jeder von Beiden ist erfüllt von der Ueber¬
zeugung, daß die Entsagung dieser Frau gegenüber, das Bewußtsein nicht ge¬
liebt zu werden, ihm das Leben werthlos, den Tod süß machen müsse. Und
doch geloben sie sich gegenseitig, daß Derjenige, der erkenne, der Andere werde
bevorzugt, neidlos zurücktreten müsse. —

In jenen trüben Stunden, da Emanuel zuerst den Nebenbuhler in Val
d'Olivi auftauchen sah, den feinen, welterfahrenen Mann, dessen Sieg bei Julia
ihm damals zweifellos schien, hatte er gegenüber dem Onkel den Wunsch ge¬
äußert, beim Stapellauf des neuen Dreimasters Donna Julia, den der Onkel
baute, mit nach Genua reisen zu dürfen. Die Mutter Emanuels, die wohl
erkannte, was den Sohn nach Val d'Olivi ziehe und von der Aussichtslosigkeit seiner
Hoffnungen beimAuftauchen des Grafen Flaviano gleichfalls überzeugt war, drüugte
ihren Bruder, den damals geäußerten Wunsch Emanuel's zu erfüllen. Nun,
da Emanuel durch das EinVerständniß mit Flaviano gleicher Kampf in Val
d'Olivi möglich wäre, nimmt ihn der Onkel beim Wort. Wenn er nicht zur
Unzeit sein Geheimniß verrathen will, muß er gehorchen. Er thut es. Er reist


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[0352] Tag, an welchem die Lippen besiegeln, was das Herz empfunden, was das Auge ausgedrückt hat und was die Geliebte doch nicht hat verstehen wollen. Ja, es kommt ein Tag, wo das Herz überfließt und man dem entfesselten Wildbach vergeblich zuruft: nicht weiter! Es giebt etwas, das erhaben ist über alle Schranken der Welt, über alle berechneten Launen einer Frau, das ist die wahre, tiefe, übermächtige Liebe; die Liebe, die keine Grenzen kennt, die jedes Hinderniß besiegt, und die daher, wenn man sie in Banden schlagen will, nothwendig die Brust zerstören muß, die sie aufgenommen, erwärmt und ge¬ wahrt hat." „Hier meine Hand!" rief Flaviano bewegt. Und er drückte die glühende Hand, die ihm Emanuel entgegenstreckte. Natürlich erklärt Julie diesem unerwarteten Männerbündniß gegenüber, „daß alle Männer anmaßend sind; daß sie in diesem Kampf um das Glück nur an sich selbst denken und eben darum kein Verständniß für das Herz einer Frau besitzen". Sie muß doch ihren Standpunkt wahren. Aber sie beginnt fortan nie mehr diese Art von „academischen Gesprächen". In der Fülle feiner psychologischer Beobachtung, welche der Roman bietet, ist diese Annäherung zweier edler Nebenbuhler im kritischsten Moment, >vo ein gewöhnlicher Romanschriftsteller unfehlbar das so beliebte Auskunfts¬ mittel des Duells und die Ohnmacht der Angebeteten hätte eintreten lassen, einer der feinsten und wahrsten Züge. Der kommende Tag schmilzt das Eis in den Herzen Beider vollständig. Ans einer sonnigen Frühwanderung nach dem Gebirgsgipfel über Val d'Olivi geloben sich die beiden Nebenbuhler die wahre Freundschaft großer Seelen. Jeder von Beiden ist erfüllt von der Ueber¬ zeugung, daß die Entsagung dieser Frau gegenüber, das Bewußtsein nicht ge¬ liebt zu werden, ihm das Leben werthlos, den Tod süß machen müsse. Und doch geloben sie sich gegenseitig, daß Derjenige, der erkenne, der Andere werde bevorzugt, neidlos zurücktreten müsse. — In jenen trüben Stunden, da Emanuel zuerst den Nebenbuhler in Val d'Olivi auftauchen sah, den feinen, welterfahrenen Mann, dessen Sieg bei Julia ihm damals zweifellos schien, hatte er gegenüber dem Onkel den Wunsch ge¬ äußert, beim Stapellauf des neuen Dreimasters Donna Julia, den der Onkel baute, mit nach Genua reisen zu dürfen. Die Mutter Emanuels, die wohl erkannte, was den Sohn nach Val d'Olivi ziehe und von der Aussichtslosigkeit seiner Hoffnungen beimAuftauchen des Grafen Flaviano gleichfalls überzeugt war, drüugte ihren Bruder, den damals geäußerten Wunsch Emanuel's zu erfüllen. Nun, da Emanuel durch das EinVerständniß mit Flaviano gleicher Kampf in Val d'Olivi möglich wäre, nimmt ihn der Onkel beim Wort. Wenn er nicht zur Unzeit sein Geheimniß verrathen will, muß er gehorchen. Er thut es. Er reist

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/352>, abgerufen am 01.09.2024.