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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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Der Reichshofrath anfänglich nur dazu bestimmt, dem Kaiser in Staatsge¬
schäften, Gnadensachen und Lehnsangelegenheiten mit schriftlichen Gutachten an
die Hand zu gehen, wurde später auch ein Spielball der Parteien. Entschieden
lag es, nicht im Sinne der Stände, neben dem Kammergericht noch einen
zweiten Gerichtshof, der nur vom Kaiser abhängig war, aufkommen zu lassen.
Alle Protestationen halfen jedoch nichts. Die Reichsgesetze sprachen zwar
immer nur vom Kammergericht, der Reichshofrath blieb aber, und seit dem
westfälischen Frieden war ihm die Eigenschaft als Gerichtsstelle unbestritten
gesichert. Die Bedeutung des Reichskammergerichts schwand immer mehr. An
dem Kaiser hatte es, als Konkurrenten des Neichshofraths, einen natürlichen
Gegner. Die größeren Landesherren schlössen die Wirksamkeit des Kammer¬
gerichts von ihren Territorien aus, indem sie in Bezug auf das Recht der
Unterthanen vor demselben klagend aufzutreten, sich für ihre Staaten das
Mons^iuni als Q0n, svcxzxmäo geben ließen, und wenn es Regierungshand¬
lungen der Landesherren betraf, machten diese das Recht des Rekurses an den
Reichstag geltend, wo andere Mittel, als rechtliche Deduktionen eine Entschei¬
dung herbeiführten. Den mittleren und kleinen Landesherren gelang es zwar
nicht, sich dem Reichskammergericht gänzlich zu entziehen, sie entzogen ihm je¬
doch nach Möglichkeit die Mittel zur Fortexistenz. Alle Reichsstände sollten
zweimal im Jahre bestimmte Geldbeitrüge, die sogenannten Kammerzieler, zur
Unterhaltung des Kammergerichts einzahlen. Indessen die einen kamen ihrer
Verpflichtung nnr lässig oder unvollständig nach, andere zahlten gar nicht, so
daß im Jahre 1769 mehr als eine halbe Million Reichsthaler rückständig war.
Alles, sagte man im Volke, scheine sich zum Untergänge des Reichsgerichts ver¬
schworen zu haben, Feuer, Krieg und Pestilenz und an Hungersnoth leide es
immerdar. Wegen Mangels an Geld konnte auch die Zahl der Richter niemals
vollständig sein, und die Folge davon war, daß die Masse der Geschäfte nicht
bewältigt werden konnte. Im Jahre 1772 belief sich die Zahl der uner¬
ledigten Prozesse auf 61,233. Schon Goethe weist in Wahrheit und Dichtung
darauf hin, wie Intriguen und Bestechungen nothwendig waren, um eine
Rechtsangelegenheit überhaupt uur in Gang zu bringen. Beinahe in zwei
Jahrhunderten hatte keine Visitation stattgefunden und als endlich 1767 eine
solche angeordnet wurde, stieß man auf einen wahren Abgrund von Korruption.
Das Palladium der deutschen Freiheit erwies sich als ein Sitz der Partei¬
lichkeit, als eine Kaufbude, wo das Recht an den Meistbietenden verschachert
wurde. Nicht besser sah es bei dem höchsten Gericht in Wien aus, auch der
Reichshofrath hatte Ehre und Reputation im deutschen Reiche verloren.

In wie trauriger Verfassung sich das Justizwesen immer befand, mit den
Finanzen des Reichs sah es fast noch schlimmer aus. Außer den Kammer-


Der Reichshofrath anfänglich nur dazu bestimmt, dem Kaiser in Staatsge¬
schäften, Gnadensachen und Lehnsangelegenheiten mit schriftlichen Gutachten an
die Hand zu gehen, wurde später auch ein Spielball der Parteien. Entschieden
lag es, nicht im Sinne der Stände, neben dem Kammergericht noch einen
zweiten Gerichtshof, der nur vom Kaiser abhängig war, aufkommen zu lassen.
Alle Protestationen halfen jedoch nichts. Die Reichsgesetze sprachen zwar
immer nur vom Kammergericht, der Reichshofrath blieb aber, und seit dem
westfälischen Frieden war ihm die Eigenschaft als Gerichtsstelle unbestritten
gesichert. Die Bedeutung des Reichskammergerichts schwand immer mehr. An
dem Kaiser hatte es, als Konkurrenten des Neichshofraths, einen natürlichen
Gegner. Die größeren Landesherren schlössen die Wirksamkeit des Kammer¬
gerichts von ihren Territorien aus, indem sie in Bezug auf das Recht der
Unterthanen vor demselben klagend aufzutreten, sich für ihre Staaten das
Mons^iuni als Q0n, svcxzxmäo geben ließen, und wenn es Regierungshand¬
lungen der Landesherren betraf, machten diese das Recht des Rekurses an den
Reichstag geltend, wo andere Mittel, als rechtliche Deduktionen eine Entschei¬
dung herbeiführten. Den mittleren und kleinen Landesherren gelang es zwar
nicht, sich dem Reichskammergericht gänzlich zu entziehen, sie entzogen ihm je¬
doch nach Möglichkeit die Mittel zur Fortexistenz. Alle Reichsstände sollten
zweimal im Jahre bestimmte Geldbeitrüge, die sogenannten Kammerzieler, zur
Unterhaltung des Kammergerichts einzahlen. Indessen die einen kamen ihrer
Verpflichtung nnr lässig oder unvollständig nach, andere zahlten gar nicht, so
daß im Jahre 1769 mehr als eine halbe Million Reichsthaler rückständig war.
Alles, sagte man im Volke, scheine sich zum Untergänge des Reichsgerichts ver¬
schworen zu haben, Feuer, Krieg und Pestilenz und an Hungersnoth leide es
immerdar. Wegen Mangels an Geld konnte auch die Zahl der Richter niemals
vollständig sein, und die Folge davon war, daß die Masse der Geschäfte nicht
bewältigt werden konnte. Im Jahre 1772 belief sich die Zahl der uner¬
ledigten Prozesse auf 61,233. Schon Goethe weist in Wahrheit und Dichtung
darauf hin, wie Intriguen und Bestechungen nothwendig waren, um eine
Rechtsangelegenheit überhaupt uur in Gang zu bringen. Beinahe in zwei
Jahrhunderten hatte keine Visitation stattgefunden und als endlich 1767 eine
solche angeordnet wurde, stieß man auf einen wahren Abgrund von Korruption.
Das Palladium der deutschen Freiheit erwies sich als ein Sitz der Partei¬
lichkeit, als eine Kaufbude, wo das Recht an den Meistbietenden verschachert
wurde. Nicht besser sah es bei dem höchsten Gericht in Wien aus, auch der
Reichshofrath hatte Ehre und Reputation im deutschen Reiche verloren.

In wie trauriger Verfassung sich das Justizwesen immer befand, mit den
Finanzen des Reichs sah es fast noch schlimmer aus. Außer den Kammer-


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[0331] Der Reichshofrath anfänglich nur dazu bestimmt, dem Kaiser in Staatsge¬ schäften, Gnadensachen und Lehnsangelegenheiten mit schriftlichen Gutachten an die Hand zu gehen, wurde später auch ein Spielball der Parteien. Entschieden lag es, nicht im Sinne der Stände, neben dem Kammergericht noch einen zweiten Gerichtshof, der nur vom Kaiser abhängig war, aufkommen zu lassen. Alle Protestationen halfen jedoch nichts. Die Reichsgesetze sprachen zwar immer nur vom Kammergericht, der Reichshofrath blieb aber, und seit dem westfälischen Frieden war ihm die Eigenschaft als Gerichtsstelle unbestritten gesichert. Die Bedeutung des Reichskammergerichts schwand immer mehr. An dem Kaiser hatte es, als Konkurrenten des Neichshofraths, einen natürlichen Gegner. Die größeren Landesherren schlössen die Wirksamkeit des Kammer¬ gerichts von ihren Territorien aus, indem sie in Bezug auf das Recht der Unterthanen vor demselben klagend aufzutreten, sich für ihre Staaten das Mons^iuni als Q0n, svcxzxmäo geben ließen, und wenn es Regierungshand¬ lungen der Landesherren betraf, machten diese das Recht des Rekurses an den Reichstag geltend, wo andere Mittel, als rechtliche Deduktionen eine Entschei¬ dung herbeiführten. Den mittleren und kleinen Landesherren gelang es zwar nicht, sich dem Reichskammergericht gänzlich zu entziehen, sie entzogen ihm je¬ doch nach Möglichkeit die Mittel zur Fortexistenz. Alle Reichsstände sollten zweimal im Jahre bestimmte Geldbeitrüge, die sogenannten Kammerzieler, zur Unterhaltung des Kammergerichts einzahlen. Indessen die einen kamen ihrer Verpflichtung nnr lässig oder unvollständig nach, andere zahlten gar nicht, so daß im Jahre 1769 mehr als eine halbe Million Reichsthaler rückständig war. Alles, sagte man im Volke, scheine sich zum Untergänge des Reichsgerichts ver¬ schworen zu haben, Feuer, Krieg und Pestilenz und an Hungersnoth leide es immerdar. Wegen Mangels an Geld konnte auch die Zahl der Richter niemals vollständig sein, und die Folge davon war, daß die Masse der Geschäfte nicht bewältigt werden konnte. Im Jahre 1772 belief sich die Zahl der uner¬ ledigten Prozesse auf 61,233. Schon Goethe weist in Wahrheit und Dichtung darauf hin, wie Intriguen und Bestechungen nothwendig waren, um eine Rechtsangelegenheit überhaupt uur in Gang zu bringen. Beinahe in zwei Jahrhunderten hatte keine Visitation stattgefunden und als endlich 1767 eine solche angeordnet wurde, stieß man auf einen wahren Abgrund von Korruption. Das Palladium der deutschen Freiheit erwies sich als ein Sitz der Partei¬ lichkeit, als eine Kaufbude, wo das Recht an den Meistbietenden verschachert wurde. Nicht besser sah es bei dem höchsten Gericht in Wien aus, auch der Reichshofrath hatte Ehre und Reputation im deutschen Reiche verloren. In wie trauriger Verfassung sich das Justizwesen immer befand, mit den Finanzen des Reichs sah es fast noch schlimmer aus. Außer den Kammer-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/331>, abgerufen am 01.09.2024.