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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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Zeit und der meist geringen Bildung der Hörer eine sachliche Diskussion fast
immer unmöglich ist; sie wissen, daß gemeiniglich derjenige Redner Oberhand
behalten wird, welcher über den größten Vorrath geschickt formulirter Phrasen
gebietet; sie wissen, daß selbst, wenn ihr Vertreter eklatant abgeführt werden
sollte, doch keine unanfechtbare Entscheidung darüber möglich ist, und im
schlimmsten Falle ihre ganze Presse seinen Sieg proklamiren wird; sie wisse",
daß sie mit solchen Spektakelstücken, ohne irgend nennenswerthe Gefahr zu
laufen, auch nur einen Anhänger zu verlieren, Tausenden ihrer erprobten Ge¬
nossen ein köstliches Gaudium bereiten, sie im rechten Glauben befestigen und
stärken, dazu Hunderte von Neugierigen anlocken, denen sonst vielleicht niemals
eine sozialdemokratische Broschüre oder Zeitung in die Hände gekommen wäre.
In dem vorliegenden Falle war die Sache höchstens insofern etwas komplizirt,
als es sich nicht wie üblich um politische oder wirthschaftliche, sondern um
religiöse Diskussionen handelte. In religiösen Fragen ist die Taktik der
Sozialdemokratie bekanntlich etwas diffizil. Im Prinzip ist die Partei athei¬
stisch und muß sie atheistisch sein; das wird zwar von Herrn Todt bestritten,
allein seine liebenswürdige Insinuation, daß die braven Sozialdemokraten nur
von den schlechten Liberalen die Gottlosigkeit sich äußerlich angewöhnt hätten,
beweist nichts, als seine grandiose Unkenntniß in den ersten Elementen des
wissenschaftlichen Sozialismus. Die materialistische Geschichtsauffassung, auf
welcher sich das ganze System von Marx aufbaut, ist selbstverständlich durch
und durch atheistisch; deshalb war es durchaus konsequent, als 1873 der
Mainzer Kongreß der sozialdemokratischen Arbeiterpartei resolvirte, den Mit¬
gliedern sei der Austritt aus der Kirche zu empfehlen, da sie durch Annahme
des Parteiprogramms ohnehin mit, jedem religiösen Glauben gebrochen hätten,
und wenn bald darauf der "Volksstaat" schrieb: "Entweder es giebt einen
Gott, und dann wären wir freilich geleimt. Oder es giebt keinen Gott, und
dann können wir angeben, was wir wollen", so ist dieser rohe Cynismus
nichts Anderes, als die Quintessenz des ganzen Systems. Wenn somit das
Prinzip außer aller Frage steht, so liegt es doch etwas anders mit der Taktik.
Die klügeren Agitatoren erkannten gar bald, ein wie schweres Hinderniß der
religiöse Sinn bei den untern Schichten des Volks einer ganz rückhaltlosen Pro¬
paganda bereite, und so gewöhnte man sich vielfach schon seit Lassalle's Tagen
daran -- dessen Elogen für den Bischof v. Ketteler ja bekannt sind -- die
Stellung der Sozialdemokratie zu kirchlichen Fragen in einem gewissen Halb¬
dunkel zu lassen. In dem Gothaer Vereinigungsprogramm von 1875 kam
man dahin überein, die Religion "für Privatsache" zu erkläre", ein Beschluß,
der übrigens das Prinzip doch noch immer insofern wahrt, als der "private"
Charakter der Religion im Zukunftsstaate alle gottesdienstlichen Kulte aus-


Zeit und der meist geringen Bildung der Hörer eine sachliche Diskussion fast
immer unmöglich ist; sie wissen, daß gemeiniglich derjenige Redner Oberhand
behalten wird, welcher über den größten Vorrath geschickt formulirter Phrasen
gebietet; sie wissen, daß selbst, wenn ihr Vertreter eklatant abgeführt werden
sollte, doch keine unanfechtbare Entscheidung darüber möglich ist, und im
schlimmsten Falle ihre ganze Presse seinen Sieg proklamiren wird; sie wisse»,
daß sie mit solchen Spektakelstücken, ohne irgend nennenswerthe Gefahr zu
laufen, auch nur einen Anhänger zu verlieren, Tausenden ihrer erprobten Ge¬
nossen ein köstliches Gaudium bereiten, sie im rechten Glauben befestigen und
stärken, dazu Hunderte von Neugierigen anlocken, denen sonst vielleicht niemals
eine sozialdemokratische Broschüre oder Zeitung in die Hände gekommen wäre.
In dem vorliegenden Falle war die Sache höchstens insofern etwas komplizirt,
als es sich nicht wie üblich um politische oder wirthschaftliche, sondern um
religiöse Diskussionen handelte. In religiösen Fragen ist die Taktik der
Sozialdemokratie bekanntlich etwas diffizil. Im Prinzip ist die Partei athei¬
stisch und muß sie atheistisch sein; das wird zwar von Herrn Todt bestritten,
allein seine liebenswürdige Insinuation, daß die braven Sozialdemokraten nur
von den schlechten Liberalen die Gottlosigkeit sich äußerlich angewöhnt hätten,
beweist nichts, als seine grandiose Unkenntniß in den ersten Elementen des
wissenschaftlichen Sozialismus. Die materialistische Geschichtsauffassung, auf
welcher sich das ganze System von Marx aufbaut, ist selbstverständlich durch
und durch atheistisch; deshalb war es durchaus konsequent, als 1873 der
Mainzer Kongreß der sozialdemokratischen Arbeiterpartei resolvirte, den Mit¬
gliedern sei der Austritt aus der Kirche zu empfehlen, da sie durch Annahme
des Parteiprogramms ohnehin mit, jedem religiösen Glauben gebrochen hätten,
und wenn bald darauf der „Volksstaat" schrieb: „Entweder es giebt einen
Gott, und dann wären wir freilich geleimt. Oder es giebt keinen Gott, und
dann können wir angeben, was wir wollen", so ist dieser rohe Cynismus
nichts Anderes, als die Quintessenz des ganzen Systems. Wenn somit das
Prinzip außer aller Frage steht, so liegt es doch etwas anders mit der Taktik.
Die klügeren Agitatoren erkannten gar bald, ein wie schweres Hinderniß der
religiöse Sinn bei den untern Schichten des Volks einer ganz rückhaltlosen Pro¬
paganda bereite, und so gewöhnte man sich vielfach schon seit Lassalle's Tagen
daran — dessen Elogen für den Bischof v. Ketteler ja bekannt sind — die
Stellung der Sozialdemokratie zu kirchlichen Fragen in einem gewissen Halb¬
dunkel zu lassen. In dem Gothaer Vereinigungsprogramm von 1875 kam
man dahin überein, die Religion „für Privatsache" zu erkläre», ein Beschluß,
der übrigens das Prinzip doch noch immer insofern wahrt, als der „private"
Charakter der Religion im Zukunftsstaate alle gottesdienstlichen Kulte aus-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/33>, abgerufen am 01.09.2024.