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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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und Jules Simon -- aber zu einer radikalen Reform hat noch keiner der
mächtigen Männer der Presse oder Regierung den Muth gehabt. Denn Jahr¬
hunderte laug ist dieses "bewährte" System in Kraft gewesen. Die analogen
Fehler der Mädchenerziehung werden wir unten eingehender darlegen.

Die Mängel dieses Erziehungssystems werden noch verstärkt durch die in
unsren Augen komische, für den Franzosen aber im höchsten Grade anziehende
Rolle, welche "Väterchen Staat" bei den öffentlichen Prüfungen und den öffent¬
lichen Prämienvertheilungen an fleißige Musterknaben spielt. Eine öffentliche
Schulpreisvertheilung in Frankreich kann sich unsre schlichte deutsche Phantasie
einfach nicht vorstellen. Auf einer Estrade des großen Saales sitzen um einen
schweren geschnitzten Eichentisch sämmtliche Professoren der Anstalt in feierlicher
Robe, mit dem eckigen Universitätsbarret auf dem Haupte. Städtische Soldaten
in großer Uniform halten Wacht an den Enden der Estrade und in einem
Winkel des Saales hat sich ein Orchester etablirt. Die Fahnen oder Farben
des Landes sind trophäenartig auffallend gruppirt. Ein großes Publikum aus
uniformirten Schülern, deren Angehörigen und bloßen Neugierigen bestehend,
füllt die Tiefe des Saales. Ein Huissier in der Hoftracht Ludwigs XV. holt
den Knaben, dessen Name aufgerufen wird, an seinem Platze ab und geleitet
ihn zur Estrade. Hier umarmt und küßt ihn der Direktor, übergibt ihm den
Preis (meist einige Bücher) und krönt ihn mit einem papiernen Lobeerkranz.
Das Orchester bläst Tusch, das Publikum erhebt sich zu begeistertem Klatschen
und der gediegene Junge wird von dem würdevollen Huissier an seinen Platz
zurückgeführt. Diese Scene wiederholt sich bei allen Musterknaben. Aber
damit lange nicht genug! Tags darauf melden sämmtliche Zeitungen ihre
Namen und am Abend gibt der Unterrichtsminister ein großes Banket, bei
welchem die lorbeergekrönten jungen Herrchen den Ehrenplatz einnehmen! "So
sichert sich der Staat mit einem ganz geringen Aufwand, der sich auf einige
Trompetenstöße, einen papiernen Kranz und ein Couvert an der Tafel eines
Ministers reduzirt, einen unermüdlichen Studieueifer und glühenden Wettstreit
in der ganzen Schuljugend" -- vielleicht auch nur das, was hierfür gilt,
setzen wir hinzu. "Und diese theatralische Jnscenirung einer einfachen Schulfeier
ist uur eine spezielle Anwendung jenes großartigen Systems, welches das ganze
französische Staats- und Gesellschaftsleben souverän beherrscht!" -

Der Staat ist in Frankreich eben die jedem Einzelnen greifbare irdische
Vorsehung. Und weit entfernt ist Frankreich heute von der ketzerischen Ansicht
des Geschichtsschreibers Ludwigs XI., (des Begründers des französischen Einheits¬
staates), jenes ehrwürdigen, alten Commines, der vor vierhundert Jahren schrieb,
Frankreich sei eine von der Vorsehung speziell regierte Confusion. Nein, der Staat
steht dem heutigen Franzosen, wenigstens neben, meist über der Vorsehung.


und Jules Simon — aber zu einer radikalen Reform hat noch keiner der
mächtigen Männer der Presse oder Regierung den Muth gehabt. Denn Jahr¬
hunderte laug ist dieses „bewährte" System in Kraft gewesen. Die analogen
Fehler der Mädchenerziehung werden wir unten eingehender darlegen.

Die Mängel dieses Erziehungssystems werden noch verstärkt durch die in
unsren Augen komische, für den Franzosen aber im höchsten Grade anziehende
Rolle, welche „Väterchen Staat" bei den öffentlichen Prüfungen und den öffent¬
lichen Prämienvertheilungen an fleißige Musterknaben spielt. Eine öffentliche
Schulpreisvertheilung in Frankreich kann sich unsre schlichte deutsche Phantasie
einfach nicht vorstellen. Auf einer Estrade des großen Saales sitzen um einen
schweren geschnitzten Eichentisch sämmtliche Professoren der Anstalt in feierlicher
Robe, mit dem eckigen Universitätsbarret auf dem Haupte. Städtische Soldaten
in großer Uniform halten Wacht an den Enden der Estrade und in einem
Winkel des Saales hat sich ein Orchester etablirt. Die Fahnen oder Farben
des Landes sind trophäenartig auffallend gruppirt. Ein großes Publikum aus
uniformirten Schülern, deren Angehörigen und bloßen Neugierigen bestehend,
füllt die Tiefe des Saales. Ein Huissier in der Hoftracht Ludwigs XV. holt
den Knaben, dessen Name aufgerufen wird, an seinem Platze ab und geleitet
ihn zur Estrade. Hier umarmt und küßt ihn der Direktor, übergibt ihm den
Preis (meist einige Bücher) und krönt ihn mit einem papiernen Lobeerkranz.
Das Orchester bläst Tusch, das Publikum erhebt sich zu begeistertem Klatschen
und der gediegene Junge wird von dem würdevollen Huissier an seinen Platz
zurückgeführt. Diese Scene wiederholt sich bei allen Musterknaben. Aber
damit lange nicht genug! Tags darauf melden sämmtliche Zeitungen ihre
Namen und am Abend gibt der Unterrichtsminister ein großes Banket, bei
welchem die lorbeergekrönten jungen Herrchen den Ehrenplatz einnehmen! „So
sichert sich der Staat mit einem ganz geringen Aufwand, der sich auf einige
Trompetenstöße, einen papiernen Kranz und ein Couvert an der Tafel eines
Ministers reduzirt, einen unermüdlichen Studieueifer und glühenden Wettstreit
in der ganzen Schuljugend" — vielleicht auch nur das, was hierfür gilt,
setzen wir hinzu. „Und diese theatralische Jnscenirung einer einfachen Schulfeier
ist uur eine spezielle Anwendung jenes großartigen Systems, welches das ganze
französische Staats- und Gesellschaftsleben souverän beherrscht!" -

Der Staat ist in Frankreich eben die jedem Einzelnen greifbare irdische
Vorsehung. Und weit entfernt ist Frankreich heute von der ketzerischen Ansicht
des Geschichtsschreibers Ludwigs XI., (des Begründers des französischen Einheits¬
staates), jenes ehrwürdigen, alten Commines, der vor vierhundert Jahren schrieb,
Frankreich sei eine von der Vorsehung speziell regierte Confusion. Nein, der Staat
steht dem heutigen Franzosen, wenigstens neben, meist über der Vorsehung.


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[0313] und Jules Simon — aber zu einer radikalen Reform hat noch keiner der mächtigen Männer der Presse oder Regierung den Muth gehabt. Denn Jahr¬ hunderte laug ist dieses „bewährte" System in Kraft gewesen. Die analogen Fehler der Mädchenerziehung werden wir unten eingehender darlegen. Die Mängel dieses Erziehungssystems werden noch verstärkt durch die in unsren Augen komische, für den Franzosen aber im höchsten Grade anziehende Rolle, welche „Väterchen Staat" bei den öffentlichen Prüfungen und den öffent¬ lichen Prämienvertheilungen an fleißige Musterknaben spielt. Eine öffentliche Schulpreisvertheilung in Frankreich kann sich unsre schlichte deutsche Phantasie einfach nicht vorstellen. Auf einer Estrade des großen Saales sitzen um einen schweren geschnitzten Eichentisch sämmtliche Professoren der Anstalt in feierlicher Robe, mit dem eckigen Universitätsbarret auf dem Haupte. Städtische Soldaten in großer Uniform halten Wacht an den Enden der Estrade und in einem Winkel des Saales hat sich ein Orchester etablirt. Die Fahnen oder Farben des Landes sind trophäenartig auffallend gruppirt. Ein großes Publikum aus uniformirten Schülern, deren Angehörigen und bloßen Neugierigen bestehend, füllt die Tiefe des Saales. Ein Huissier in der Hoftracht Ludwigs XV. holt den Knaben, dessen Name aufgerufen wird, an seinem Platze ab und geleitet ihn zur Estrade. Hier umarmt und küßt ihn der Direktor, übergibt ihm den Preis (meist einige Bücher) und krönt ihn mit einem papiernen Lobeerkranz. Das Orchester bläst Tusch, das Publikum erhebt sich zu begeistertem Klatschen und der gediegene Junge wird von dem würdevollen Huissier an seinen Platz zurückgeführt. Diese Scene wiederholt sich bei allen Musterknaben. Aber damit lange nicht genug! Tags darauf melden sämmtliche Zeitungen ihre Namen und am Abend gibt der Unterrichtsminister ein großes Banket, bei welchem die lorbeergekrönten jungen Herrchen den Ehrenplatz einnehmen! „So sichert sich der Staat mit einem ganz geringen Aufwand, der sich auf einige Trompetenstöße, einen papiernen Kranz und ein Couvert an der Tafel eines Ministers reduzirt, einen unermüdlichen Studieueifer und glühenden Wettstreit in der ganzen Schuljugend" — vielleicht auch nur das, was hierfür gilt, setzen wir hinzu. „Und diese theatralische Jnscenirung einer einfachen Schulfeier ist uur eine spezielle Anwendung jenes großartigen Systems, welches das ganze französische Staats- und Gesellschaftsleben souverän beherrscht!" - Der Staat ist in Frankreich eben die jedem Einzelnen greifbare irdische Vorsehung. Und weit entfernt ist Frankreich heute von der ketzerischen Ansicht des Geschichtsschreibers Ludwigs XI., (des Begründers des französischen Einheits¬ staates), jenes ehrwürdigen, alten Commines, der vor vierhundert Jahren schrieb, Frankreich sei eine von der Vorsehung speziell regierte Confusion. Nein, der Staat steht dem heutigen Franzosen, wenigstens neben, meist über der Vorsehung.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/313>, abgerufen am 27.07.2024.